Geist & Leben 3/2018. Verlag Echter
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Welche Rolle spielen die Brüder Jesu? Auf der einen Seite begleiten sie ihn und wünschen, dass er Anerkennung findet. Der Schauplatz dieser Selbstdarstellung Jesu wäre das Laubhüttenfest, zu dem viele Pilger aus ganz Israel und aus dem Ausland zusammenströmen. Es gibt keine geeignetere Gelegenheit für die Selbstoffenbarung Jesu. Auf der anderen Seite bleiben die Brüder Jesu auf der Ebene des Nikodemus, für den Jesus ein Rabbi ist, „ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist“ (Joh 3,2). Jesus ist eine große, außerordentliche Persönlichkeit in Wort und Tat, und so gilt für Nikodemus wie für die Brüder Jesu: „Gott ist mit ihm“. Für den Evangelisten reicht dies nicht aus: Jesus ist nicht von Gott, sondern er ist Gott und handelt in Einheit mit dem Vater.3 Dies wird erst offenbar, wenn die „Stunde“ Jesu im Augenblick seiner Verherrlichung durch sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung gekommen ist. Dies war bereits die Botschaft der Erzählung von der Hochzeit von Kana, als Jesus die Bitte seiner Mutter zurückwies, dem jungen Paar mit einem Wunder zu helfen. Auch damals war dies Wunder nur möglich in Verbindung mit der „Stunde“ Jesu.
Jesus und das Familienleben
Die sprachliche Welt der Familie durchzieht das ganze Johannesevangelium, sei es im menschlichen, natürlichen Sinne, sei es im übertragenen, geistlichen. Schon im Prolog (Joh 1,1–18) ist davon die Rede, „Kinder Gottes zu werden“, nicht dem Fleische nach oder aufgrund des Begehrens des Fleisches oder des Blutes, sondern durch den Glauben (Joh 1,12 f.). Im Bericht vom Gespräch Jesu mit Nikodemus ist das Thema der Geburt zentral. Jesus sagt zu Nikodemus: „Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Nikodemus erweist sich als unfähig, dieses Wort Jesu zu verstehen und versteht es in natürlichem Sinne: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden?“ (V. 4) Darauf erwidert Jesus: „Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,5–8). Wir sehen, wie Jesus sich die sprachliche Welt der Geburt zu eigen macht, sie aber in einem übertragenen Sinn benutzt: von oben geboren werden heißt neu geboren werden, nicht aus dem Mutterschoß, sondern durch das Wirken des Heiligen Geistes.
Kürzlich ist darauf hingewiesen worden, dass familiäre Beziehungen eine Rolle bei der Bildung des Jüngerkreises Jesu spielen können.4 Dies lässt sich bereits beim Bericht von der Berufung der ersten Jünger Jesu beobachten. Der Text sagt: „Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias, das heißt übersetzt: Christus, gefunden. Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas, das bedeutet: Petrus, Fels, heißen“ (Joh 1,40–42). Hinter diesem Text können wir die Szene von der Berufung der ersten Jünger Jesu am See Gennesaret in Mk 1,16–20 sehen. Die Szenerie ist verschieden, doch die Personen sind die gleichen. In Joh 21,2 werden noch die Zebedäussöhne genannt, die Brüder Jakobus und Johannes.
Die Rolle von Brüdern und Schwestern im Johannesevangelium zeigt sich auch im Bericht von der Freundschaft Jesu mit Lazarus und seinen beiden Schwestern in Joh 11,1–44, schon in den Eingangsversen 1–5. Dieser Text ist schön, denn er zeigt uns Jesus nicht nur auf den künftigen Dienst von Brüdern in seiner Gemeinde ausgerichtet, sondern als Freund der Familie des Lazarus: des Lazarus selbst und seiner beiden Schwestern. Er „liebte“ sie sogar. Während des ganzen Berichtes zeigt Jesus den beiden Schwestern seine liebevolle Zuwendung im Augenblick des Verlustes ihres Bruders. Es sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen, denen Jesus seine Freundschaft und Liebe erweist. Ganze Familien können diese Erfahrung machen.
Bei verschiedenen Gelegenheiten sehen wir Jesus voller Verständnis für schwierige Situationen im Ehe- und Familienleben. So ist es bei seiner Begegnung mit der Frau aus Samaria in Joh 4. Ein erster Gesprächswechsel mit dieser Frau betrifft die Gabe des Lebens und des Geistes durch Jesus unter dem Bild des Wassers. Die Frau versteht Jesus nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie hat verstanden, dass ihr Jesus lebendiges Wasser versprochen hat, das nicht mehr aus dem Brunnen kommt. Doch hat sie das in physischem Sinne verstanden, und so bleibt der Dialog blockiert. In diesem Augenblick wechselt Jesus das Thema und führt die Frau mit ihrem eigenen konkreten Leben in das Gespräch ein. Er lädt die Frau ein: „Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her!“ (Joh 4,16) Darauf antwortet die Frau: „Ich habe keinen Mann“ (V. 17). Jesus antwortet ihr: „Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt“ (VV. 17 f.).
Die Exeget(inn)en diskutieren über den Sinn dieser Worte Jesu.5 Vielleicht beziehen sie sich auf die heidnischen Gottheiten, die die Samaritaner nach ihrer Heimkehr aus dem Exil aus Assyrien verehrt hätten. Auf jeden Fall nimmt Jesus die Familiensituation seiner Gesprächspartnerin, der Frau aus Samarien, ernst, und nimmt sie zum Ausgangspunkt für eine Botschaft über den rechten Kult und Kultort. Es fällt auf, dass Jesus in keiner Weise die Frau verurteilt. Er nimmt die Situation, wie sie ist, und nutzt sie für seine Botschaft über den rechten Kult. Jesus ist kein Moralist. Das gleiche lässt sich bei einem anderen Text des Johannesevangeliums beobachten, der Geschichte von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau in Joh 7,53–8,11.6 Der ursprüngliche Ort dieses Textes ist unbekannt. Der Text erscheint an der heutigen Stelle erst seit dem 5. Jh., ist jedoch deutlich älter. Vermutlich wurde er an verschiedenen Stellen des Neuen Testaments eingefügt, noch ohne festen Platz, da sein Inhalt problematisch erschien: ein Jesus, der einer beim Ehebruch ertappten Frau Verzeihung gewährt und sie nicht verurteilt, erschien der ersten Kirche gefährlich und deshalb tat man sich schwer damit, den Text dem Neuen Testament fest einzufügen. Stil und Sprache des Textes passen nicht recht zum Johannesevangelium. Man denkt eher an Lukas mit seiner ähnlichen Szene von Jesus und der Sünderin in Lk 7,36–50. Doch auch im Zusammenhang von Joh 7–10 liest sich unser Text durchaus sinnvoll. Jesus spricht hier wiederholt vom Gericht. Dies ist auch das Thema des Abschnitts von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau.
In diesem Text bringen einige Pharisäer und Schriftgelehrte eine angeblich beim Ehebruch ertappte Frau zu Jesus. Nach dem Gesetz des Mose musste eine solche Frau gesteinigt werden – doch was sagt Jesus dazu, der doch für seine Barmherzigkeit gegenüber den Sündern bekannt ist? Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine Falle. Wenn Jesus die Frau seinerseits verurteilt, handelt er gegen seine Prinzipien, wenn er es nicht tut, riskiert er einen Konflikt mit dem Gesetz des Mose. Die Antwort Jesu besteht in einer Zeichenhandlung. Jesus bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde – Worte, die uns unbekannt bleiben. So ist es offenbar nicht der von Jesus geschriebene Text, sondern das Schreiben selbst, worin die Antwort Jesu liegt. Der heilige Augustinus hat den Sachverhalt gut erklärt: dem in Stein gemeißelten Gesetz stellt Jesus etwas in Sand Geschriebenes gegenüber, das bald verwischt sein wird und man nicht als Waffe gegen die angeklagte Frau gebrauchen kann. Dieser Handlung entspricht das Wort Jesu an die Frau, ob sie niemand verurteilt habe. Wenn es niemand war, dann wird auch er sie nicht verurteilen, und so sendet er sie nach Hause, nur mit der Mahnung, fortan nicht mehr zu sündigen – was nicht bedeutet, dass Jesus von ihrer Schuld überzeugt war. Es waren nur die Umstehenden, die einer nach dem anderen nach Hause zurückkehrten, angefangen von den Ältesten, da sie nicht ohne Schuld waren.
Was folgt aus dieser Szene für unser Thema von Jesus und der Familie? Jesus ergreift für eine wegen eines Vergehens angeklagte Frau Partei, indem