Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst
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Kellert überlegte. Dann wandte er sich mit einem ungewöhnlichen Anliegen an seinen Mitarbeiter: „Dominik: Kannst du nicht deine Verena fragen, ob sie nachher ein halbes Stündchen für uns Zeit hätte? Wenn wir schon einmal ein Familienmitglied vor Ort haben. Vielleicht kann sie uns weiterhelfen. Sie hat ja – sozusagen – Insiderwissen. Das sollten wir schon anzapfen, oder? Jaja“, er blickte auf Thiele, der gerade empört zu einer Erwiderung ansetzte, „natürlich so, dass es ihr nicht schadet, ist schon klar. Wir wollen sie nicht in einen Rollenkonflikt bringen.“
Sie verabredeten sich in der Wohnung der Thieles, wo Verena gerade den Unterricht vorbereitete. Gut, da würden sie nicht gestört und auch nicht von unliebsamen Augen gesehen werden. „Chef, brauchen Sie mich da?“, fragte Hannah Mellrich. „Ich hätte nämlich für meinen anderen Fall noch einige Formblätter auszufüllen. Nicht, dass ich mich danach sehnen würde. Aber erledigt werden muss es nun einmal.“ Kellert überlegte kurz und stimmte dann zu: „Gut, machen Sie das. Und: Danke für Ihre Begleitung und Beobachtung.“
8.
„Und, wie macht sie sich so, die Neue?“, fragte Thiele, während sie völlig gegen alle Gewohnheit zu zweit zu seiner Privatwohnung fuhren. Wie immer steuerte er den Dienstwagen. Kellert fuhr nicht gern selbst. Er blickte nach links, murmelte zunächst etwas Unverständliches, räusperte sich dann und antwortete: „Gut. Das hast du ja selber mitbekommen. Aufmerksam, genau, nicht zu aufdringlich – das passt!“
Er blickte nach rechts aus dem Fenster und auf das dort langsam vorbeiziehende Friedensberger Panorama. „Aber ungewohnt ist es schon. Mit einer Frau unterwegs zu sein. Das ist doch …“ – er suchte nach Worten – „irgendwie anders. Da ist schon eine Art Spannung in der Luft. Irgendwie. Und ich habe das Gefühl, als müsste ich ihr etwas beweisen.“ Er feixte. „Sag es nicht weiter“, fügte er an. Sein Blick verlor sich in nicht fixierbaren Fernen. „Na ja, das wird schon“, kommentierte er abschließend, als müsste er sich selbst von dem Gesagten überzeugen. Und als hätte er nun schon mehr als genug von seinem Innenleben preisgegeben.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Seit mehr als zwei Jahren wohnte Kriminalhauptmann Dominik Thiele zusammen mit seiner Frau – sie waren seit sechs Monaten verheiratet – in einer geräumigen Mietwohnung im dritten Stock eines Neubaus in den Außenvierteln von Friedensberg. Thiele wusste, dass sich Verena in der Gegenwart seines Chefs immer ein bisschen gezwungen fühlte. Sie hatten sich bei einem Mordfall in der Theologischen Fakultät von Friedensberg kennengelernt, als Verena dort noch Studentin war. Inzwischen trafen sie sich auch privat, aber eher selten.
Die Kellerts waren selbstverständlich zur Hochzeit der Thieles eingeladen gewesen. Eine echte Lockerheit im Umgang wollte sich gleichwohl nicht so recht einstellen. Lag es am Altersunterschied? Oder daran, dass der erste Eindruck eben aus dem Zusammentreffen zwischen einem Kriminalkommissar und einer potentiell – aber natürlich völlig grundlos – Verdächtigen entstanden war?
Der großzügige Wohnbereich der Mietwohnung des jungen Paares eröffnete einen weiten Blick über die Hänge auf der anderen Seite des breitgeschwungenen Flusstales von Friedensberg. Sie saßen in den modischen Sesseln, Verena hatte einen Kräutertee aufgebrüht, der Kellert erstaunlich gut schmeckte.
„Na, wie ist denn so das Leben als Lehrerin?“, fragte er in angestrengter Ungezwungenheit. Verena lächelte etwas bemüht. Sie hatte eigentlich gar keine Zeit. Der Unterricht für morgen war noch nicht vorbereitet und eine Klassenarbeit war erst zur Hälfte korrigiert. Lehreralltag halt. Aber sie wollte dem Chef ihres Mannes den Wunsch nach einem Gespräch natürlich nicht abschlagen.
„Das kannte ich ja schon aus dem Referendariat. Aber jetzt bin ich endlich selbstständig. Keiner mehr, der mir über die Schulter guckt und Ratschläge gibt, egal ob gebeten oder ungebeten. Das genieße ich schon. Und ich wusste ja, dass ich gern mit den Kids arbeite. Und dass ich das auch kann. Dazu kommt: Ich habe ja nur eine Dreiviertelstelle. Das lässt mir natürlich ein bisschen Freiraum. Da kann ich mich besser vorbereiten, und das nehme ich auch ernst. Also, Bernd“ – immer noch eine ungewohnte Anrede mit dem ‚Du‘ und dem Vornamen –, „gut geht’s mir. Wirklich! Danke. Aber deswegen seid ihr nicht hier. Also los: Was wollt ihr wissen?“
Kellert spürte sofort, dass er sich in der vertrauten Rolle als Befragender wesentlich sicherer fühlte als zuvor in dieser seltsamen und letztlich ungeklärten Mischung aus Privatleben und Beruf. „Wir müssen einfach noch viel besser verstehen, wie eine Schule von innen funktioniert. Nein“, verbesserte er sich, „wie diese Schule funktioniert, das KaRaGe, das Domgymnasium in Friedensberg.“
Verena überlegte. „Was soll ich sagen? Das ist eine wirklich gute Schule. Ich bin froh, dort gelandet zu sein. Wenn irgend möglich, möchte ich da bleiben. Ich habe ja bislang nur einen Zeitvertrag.“ Dominik Thiele nickte. Die angedeutete Perspektive gefiel ihm. Auch er hatte sich in Friedensberg gut eingelebt.
Kellert unterbrach Verena jedoch: „Gute Schule? Was heißt das?“ Sie schmunzelte: „Genau, das ist die Frage, nicht wahr? Darüber streiten sich die Pädagogik, die Philosophie und die Politik seit Jahrhunderten. Für mich heißt das: Wir versuchen, unseren Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Sie zu fördern. Und zu fordern. Immerhin sind wir ein Gymnasium. In einer Atmosphäre, die von Vertrauen geprägt ist. Zwischen Schülerschaft und Lehrerschaft, aber auch im Kollegium untereinander.“
Sie unterbrach ihren Gedankengang und blickte an die weiß getünchte Zimmerdecke. „Ja, das versuchen wir. Mit unterschiedlichem Erfolg, klar. Aber die Schüler können bei uns wirklich etwas lernen, fachlich und menschlich. Und wir im Kollegium sind eigentlich eine ganz gute Gemeinschaft. Soweit ich das beurteilen kann, ich bin ja erst seit zweieinhalb Jahren mit dabei. So richtig erst seit September. Als Referendarin hat man ja einen Sonderstatus, halb Teil des Teams, halb Gast auf Zeit.“
„Das klingt doch alles sehr gut“, kommentierte Dominik Thiele. „Fast schon zu gut“, warf Kellert ein. „Also bei eurer stellvertretenden Chefin, bei dieser“ – er überlegte kurz – „Ingrid Wiesmüller, klingt das anders. Sie hat uns, also der Kollegin Mellrich und mir, von dauerhafter Spannung und Konflikten erzählt.“
„Ja, die Wiesmüller!“, lachte Verena Thiele auf. „Die ist schon eine besondere Marke, oder? Ständig unter Spannung. Ständig in Inszenierung. Da schmunzeln besonders die älteren Männer im Kollegium. Hinter ihrem Rücken natürlich. ‚Mach mal langsam, Mädchen‘, hat der Müllner letzte Woche gesagt, als sie nach einem ihrer typischen Auftritte im Lehrerzimmer wieder verschwunden war. Großes Gelächter.“
„Aber ihre Einschätzung über die Schule …?“, schob Kellert nach. „Die ist natürlich nicht falsch“, räumte Verena ein. „Und das ist trotzdem kein Beleg dafür, dass ich mit meiner Wahrnehmung Unrecht hätte. Beides stimmt. Schule kannst du immer unter verschiedenen Perspektiven betrachten, das ist nun einmal so. Natürlich brodelt es unter der Oberfläche. Ständig werden einige belohnt, andere abgestraft; einige bestätigt, andere in ihrer Schwäche bloßgestellt; einige befördert, andere gegen ihre Erwartungen links liegen gelassen. Aber was willst du machen? Das ist nun einmal in der ganzen Gesellschaft so. Wie sollte Schule da eine Ausnahme bilden? Wir sind doch Teil dieser Gesellschaft, keine Sonderwelt. Aber wir versuchen wenigstens, fair und offen miteinander umzugehen. Wenigstens das.“
Sie schwiegen und nippten an dem noch handwarmen Tee. Dann ergriff Kellert das Wort: „Und der Chef, der Dr. Geißendörfner, wie war der so?“ Verenas Augen verengten sich. „Dass der jetzt tot ist! Das kann ich mir noch gar nicht so richtig vorstellen. Ich weiß es, kann es aber eigentlich nicht fassen. Und dass irgendjemand ihn ermordet hat! Vielleicht sogar jemand, den ich kenne. Wenn es denn einer