Leidenschaft und Fußball. Thorsten Kapperer

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Leidenschaft und Fußball - Thorsten Kapperer Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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des deutschen Kaiserreichs viele Geschichten von jungen Kickern, deren Fußballbegeisterung mit der „Sonntagspflicht“ kollidierte. Schon in den ersten Jahrbüchern des Deutschen Fußball-Bundes wurden solche Kulturkonflikte thematisiert.22 Unvergessen seien laut Herzog weiterhin Geschichten von Fußballern, die heute zu den sogenannten „Alten Herren“ gehören und die fünfzehn Minuten vor dem Abpfiff das Feld verlassen mussten, um rechtzeitig in der Kirche den Ministrantendienst versehen zu können. Oder die umgekehrt das Fußballtrikot unter dem bürgerlichen Habit trugen um unmittelbar nach dem Ende des Gottesdienstes, oder heimlich schon einige Minuten früher, die Kirche verließen, um beim Jugendspiel ihrer Mannschaft mitmachen zu können. Diese Geschichten zogen sich durch mehrere Jahrzehnte. In den 1950er Jahren kam es manchmal fast zu Krisen, die sich deswegen in bundesdeutschen Familien abspielten.23

      Anekdotenhaft und deshalb nicht mehr genau zu terminieren, berichtet Hermann Queckenstedt in seinem Referat „Sonntagskick statt Sonntagspflicht – Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Fußballvereinen und christlichen Kirchen“, das er im März 2014 auf der 7. Sporthistorischen Konferenz im Kloster Irsee hielt, von einem gewissen Ulrich „Uli“ Hoeneß, der im Alter von acht Jahren von einem Ministrantenzeltlager ausbüchste, woran er seitens seiner Eltern teilnehmen musste, 50 Kilometer mit seinem Fahrrad zu einem Fußallspiel seiner Mannschaft fuhr, beim Stand von 0:4 eingewechselt wurde und mit fünf Toren den 5:4-Endstand herstellte. Oder Josef „Sepp“ Maier, dessen Eltern seinen Messbesuch oft damit kontrollierten, indem sie ihn danach fragten, welchen Kragen der Pfarrer im Gottesdienst getragen hatte. Maier wusste sich zu helfen. Er ging kurz in die Kirche, merkte sich den Kragen des Pfarrers um dann rasch zum Fußballspielen zu gehen.

      Doch seit den 1980er Jahren24 lernte die Kirche zu akzeptieren, dass „sie als gelebte Religion nicht in Konkurrenz- oder Führungskämpfen mit anderen Kulturphänomenen steht, sondern daß sie gerade im Dialog mit solchen Kulturphänomenen wie Fußball an gleichnishafter Sprache gewinnen kann“25. Auch Andreas Merkt konstatiert, dass die antike Arena und das Christentum noch Gegensätze bildeten und der wilde Urfußball ebenso mit der christlichen Lehre unvereinbar gewesen sei. Im heutigen, modernen Fußball sei aber eine grundsätzlich mit dem Christentum versöhnte Form von Arenakultur und Ballspiel entstanden, sowie eine Spielkultur, die in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht.26

      Deshalb könnten hier ergänzend zu den genannten Initiativen zahlreiche weitere Projekte und Ausführungen erwähnt werden, die pastorale MitarbeiterInnen vor Ort oder Wissenschaftler initiiert haben. Diese Dissertationsschrift versteht sich deshalb dezidiert als Anknüpfung an das bisherige Engagement in diesem Bereich bzw. an das bisherige Zugehen der Kirche auf den Fußball. Einige weitere Bemühungen werden daher im Laufe dieser Arbeit aufgegriffen, wie zum Beispiel die Herausarbeitung des Heiligen beim Fußball (Matthias Sellmann), die Skizzierung der Gemeinsamkeiten von Sport und Kirche (Sport und christliches Ethos: Schreiben der beiden christlichen Kirche aus dem Jahr 1990) oder die Vorstellung der Stadionkapelle in der Arena Auf Schalke.

      Trotz der bereits bestehenden, positiven und vielfältigen Initiativen in diesem Bereich wird hier von der Überzeugung ausgegangen, dass eine stärkere Verbindung von Fußball und Pastoral, wie sie in dieser Arbeit gefordert wird, das bisherige Engagement noch ergänzen und bereichern kann.

      Die Begeisterung, die dieser Sport auslöst, ist prinzipiell und wesentlich nicht an ein Geschlecht gebunden. Der Lauf der Geschichte des Sports und die heutige Erscheinungsform zeigen jedoch, dass der Fußball hauptsächlich mit Männern in Verbindung gebracht wird, was diese Arbeit ebenfalls berücksichtigt. Trotzdem wird die Verbindung von Frauen und Fußball immer wieder thematisiert, zum Beispiel bei der Darstellung der emanzipatorischen Kraft des Fußballs. Auch die Haltungs-Impulse des dritten Hauptteils und einige Handlungs-Impulse wenden sich gleichermaßen an Frauen wie an Männer. Denn gerade die Erfolge der Frauen-Nationalmannschaft sowie einiger Teams der Damen-Bundesliga, aber auch die Leidenschaft so vieler Mädchen und junger Frauen, die in den Jugend- und Amateurmannschaften spielen, haben den Frauen-Fußball in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem gesellschaftlich akzeptierten und erfolgreichen Sport gemacht.27

      Unter Bezugnahme auf die bisherigen Ausführungen dieser Einleitung soll mit der Gliederung das Ziel dieser Arbeit, wie es unter 2. beschrieben wurde, erreicht werden. Die ganze Arbeit folgt dem bewährten inhaltlichen Gliederungsschema „Sehen – Urteilen – Handeln“.

      Der erste Hauptteil des „Sehens“ nimmt die Fußballwelt unter der Perspektive der Leidenschaft exemplarisch in den Blick. Dabei werden zunächst die Grundlagen der Leidenschaft dargestellt (1.). Zuerst wird die Geschichte des Fußballs als Geschichte der Leidenschaft beschrieben (1.1) und dann wird erläutert, warum die Grundlagen dieser Leidenschaft bereits im Wesen des Spiels selbst angelegt sind (1.2).

      Nach der Vergewisserung über die Grundlagen werden Signaturen dieser Leidenschaft exemplarisch erörtert (2.), indem die emanzipatorische (2.1) und die anti-emanzipatorische Kraft des Fußballs (2.2) skizziert werden. Die emanzipatorische, positive Kraft des Fußballs wird einerseits anhand einer literarischen Erzählung (2.1.1.1 Christian Friedrich Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde) sowie anhand zweier autobiografischer Werke (2.1.1.2 Nick Hornby: Fever Pitch / 2.1.1.3 Klaus Theweleit: Tor zur Welt) verdeutlicht und andererseits anhand beispielhafter Berichte, wie Fans ihre Fußballleidenschaft auf unterschiedlichste Weise leben (2.1.2). Die antiemanzipatorische, negative Kraft des Fußballs soll nicht verschwiegen werden (2.2).

      Der zweite Hauptteil des „Urteilens“ verortet die im ersten Hauptteil exemplarisch beschriebene Leidenschaft des Fußballs im Verhältnis von Gesellschaft und Religion bzw. Theologie. Ausgangspunkt dabei ist die These von Jürgen Habermas, Religion müsse ihre Inhalte so übersetzen, dass sie von der heutigen post-säkularen Gesellschaft verstanden werden. Die Suche nach einer pastoral-theologischen Sprachfähigkeit ist damit eröffnet. Das handlungsleitende Interesse bei der Suche nach Antwortmöglichkeiten auf diese Frage wird durch folgende Kernthese bestimmt: Der Theologie und der Kirche ist zu raten, sich umzusehen, wo und wie Spuren von Religiösität in der säkularen Welt außerhalb verfasster Kirchlichkeit bzw. außerhalb unserer pastoralen Bemühungen zu finden sind und hier in säkularer Sprache zum Ausdruck gebracht werden können, sodass es post-säkular geprägte Menschen, auch solche, die nicht religiös-sozialisiert sind, gut verstehen und daraus bereichernde Sinnkonstrukte für ihr Leben ableiten können (1.).

      Als Hilfe bei dieser Suche wird zunächst die Theorie religiöser Dispersion herangezogen, die besagt, dass Religion heute in vielfachen Erscheinungsformen auftritt, oft auch außerhalb verfasster Kirchlichkeit. Nach der Diskussion einiger dieser Erscheinungsformen des Religiösen wird auf den Fußballplatz verwiesen, bei dem Spuren des Religiösen zu finden sind (2.).

      Da der Fußball den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet, werden die Spuren des Religiösen bei ihm unter 3. ausführlich erarbeitet, indem vier Kennzeichen des Heiligen beim Fußball exemplarisch nachgewiesen werden. Die Leidenschaft spielt bei jedem dieser Kennzeichen eine zentrale Rolle. Anhand der Leidenschaft des Fußballs kann man sehr gut nachvollziehen, wie religiöse Spuren ausgedrückt werden, dass sie von Millionen von Menschen heute verstanden werden. Deshalb eignet sich der Fußball hervorragend dazu, die unter 1. geforderte pastoral-theologische Sprachfähigkeit einzuüben.

      Der

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