Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer

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Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer

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hervorbringe. Ich versuche aufzuzeigen, dass ethisches Handeln schrittweise besser gelingen kann, wenn wir zunächst beginnen, die Gründe für unsere selbstverschuldete ethische Unmündigkeit aufzudecken und unsere Mentalität zu hinterfragen. Solche Gründe sind beispielsweise unreflektierte Verhaltensmuster, persönliche Unaufrichtigkeit, egoistische „Wirklichkeitsbrillen“ oder der Glauben an „falsche Sätze“. Falsche Sätze drücken insbesondere solche Handlungsprinzipien und inneren Einstellungen aus, die nur Selbstentfremdung und Selbstinstrumentalisierung bewirken. In falschen Sätzen spiegeln sich unsere ungeordneten Anhänglichkeiten, wie Ignatius von Loyola2 alles nennt, was unsere Lebensentwicklung nachhaltig blockiert.

      Der Glaube an falsche Sätze lässt unser individuelles Leben und die Gestaltung einer gemeinsamen Wirklichkeit misslingen. Woran liegt das? Warum glauben wir an falsche Sätze – und wie hängen sie mit ethischer Unmündigkeit zusammen? Wohl setzt ethisches Handeln ethische Grundsätze voraus, entscheidend bleibt aber die praktische Frage, wie diese Prinzipien im konkreten Einzelfall zur Entscheidungsfindung angewandt werden. Um die Möglichkeit eines rein normativen ethischen Handelns grundsätzlich zu hinterfragen, verweise ich auf analoge Schwierigkeiten bei der axiomatischen Grundlegung der Mathematik. Wenn sogar mathematische Systeme unvollständig sein können, stellt sich umso berechtigter die Frage, ob es so etwas wie „ethische Autopiloten“ für die komplexen Entscheidungen und Handlungsalternativen unseres Alltags und unserer Berufswelt geben kann. Autopiloten haben Schwierigkeiten, in unserer vielschichtigen und komplexen Wirklichkeit zu navigieren. Und die Antwort wird lauten: Es gibt keine „ethischen Autopiloten“, keine vollautomatischen Unterscheidungssysteme, wohl aber ein persönliches ethisches Navigationssystem, ein ethisches GPS. Aber auch ethische Grundsätze müssen von Zeit zu Zeit mit dem ethischen GPS hinterfragt werden. Es gibt keinen absolut gefestigten ethischen „archimedischen Punkt“, von dem aus alles Ethische entschieden werden könnte. Um gute Entscheidungen treffen zu können, müssen wir bereit sein, uns offen mit anderen auszutauschen: Es bedarf eines offenen Dialogs (Diskurses) zur Klärung der Fragen, der die gesamte Wirklichkeit mit einbezieht.

      Die Offenheit des Dialogs ist aber keine äußerliche. Die Diskursfähigkeit mit der Wirklichkeit beginnt dabei schon im stillen inneren Dialog mit mir selbst. Ich muss mit mir selbst aufrichtig ins Gespräch kommen können. Und es bedarf einer inneren Haltung des bleibenden Hinhörens und einer Offenheit gegenüber dem, was über mich und alle anderen Menschen hinausgeht. Dabei wird das Hören zunächst wichtiger sein als die voreiligen Bemühungen, gleich zu antworten. Sonst höre ich doch wieder nur meine eigenen Vorurteile.

      Das Buch will Sie einladen, diese und andere Gedanken mitzudenken und mich auf den Wegen des Nachdenkens zu begleiten. Es wäre sehr schön, wenn wir unterwegs gewissermaßen ins Gespräch kämen oder Sie den einen oder andern Impuls mitnehmen könnten. Ich werde von meinen Erfahrungen erzählen, von Einsichten, Gedanken und Ideen. Und ich stelle insgesamt deutlich mehr Fragen, als ich Antworten geben kann. So gesehen, ist es definitiv kein Lehrbuch (siehe eingangs das Wittgenstein-Zitat). Anders als Wittgenstein hoffe ich aber, dass schließlich für Sie ein roter Faden erkennbar wird, auch wenn Sie solche oder ähnliche Gedanken doch noch nicht hatten.

      Wie sehen die Schritte entlang dieses Fadens nun konkret aus? Am Anfang stehen theoretische und praktische Überlegungen zur Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur. Ausgangspunkt sind dabei konkrete Erfahrungen aus meiner Berufswelt und die konkreten Anforderungen der Finanzaufsichtsbehörde BaFin an die Etablierung einer „angemessenen RisikoKultur“ in Kreditinstituten. Danach spüren wir möglichen Gründen nach, warum wir falsche Entscheidungen treffen. Zur Sprache kommen im dritten Kapitel u. a. menschliche Daseinserfahrungen wie Angst, Scham und Schuld. Diese Erfahrungen können zu Quellen falscher Sätze werden, wenn wir in unserem Leben damit nicht reflektiert umgehen, sondern sie verdrängen. Einer der Ausgangspunkte ist dabei die Erfahrung existenzialer Angst, wie sie Martin Heidegger sehr eindrücklich beschrieben hat.3 Diese „ontologische“ Erfahrung der Angst4 – der Erfahrung des Nichts und der möglichen Nichtigkeit meines Lebens – differenziert sich in viele unterschiedliche Formen der Furcht, die meine Mentalität prägen können. Entscheidungskompetenz setzt voraus, dass wir mit der Angst umzugehen lernen – das ist das Wesentliche für ein Umdenken mit dem ethischen GPS.

      Nachdem wir einige praktische Entscheidungshilfen kennengelernt haben, sind wir bereit zum offenen Dialog mit anderen. Eines der Scharniere „vom Ich zum Wir“ ist dabei das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses im Sinne von Jürgen Habermas. Dabei bleiben wir realistisch und erkennen, dass es in der Praxis wenigstens einen relativ herrschaftsfreien Diskurs geben kann. Durch diesen Diskurs können „Menschen guten Willens“ beispielsweise ethische Vernunft-Prinzipien erarbeiten und gemeinsame Ziele anstreben, die gut, wahr und notwendig sind: die UN-Menschenrechtskonvention (1948), die zehn Prinzipien der UN-Global-Compact-Initiative für Unternehmensführung (1999), die sechs UN Principles for Responsible Investment (PRI) 2006, die 2015 erneuerten UN Sustainable Development Goals (SDGs): 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung für 2030; das von 195 Staaten verabschiedete Pariser Klimaschutzabkommen 2015 und die 2015 erneuerten 13 Prinzipien für (ethische) Unternehmensführung des Basel Committee on Banking Supervision (BCBS) usf. Doch wieder können wir bei den Prinzipien und Zielen nicht stehenbleiben. Weiterführender Dialog muss klären, wie sie in konkreten Situationen anzuwenden sind und durch welche Maßnahmen diese Ziele erreicht werden können. Das konkrete Begehen all dieser Entscheidungs- und Handlungswege – seien es berufliche oder private – erfolgt wirklich auf eigene Gefahr. Denn es gibt, wie gesagt, trotz der guten Prinzipien und der offenen Diskurse keine garantierten Erfolgsrezepte. Letztendlich werden wir bei der Umsetzung von Zielen besser vorankommen, wenn entlang der Wege die Einsicht wächst, dass unser ethisches GPS stets im Modus des Hinhörens und Suchens operieren muss.

      1.

      Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur

      Was hat Theologie eigentlich mit Unternehmensberatung zu tun? Damit meine ich nicht etwa eine Frage nach der theologischen Begründung einer Unternehmensethik, sondern wie sich die persönliche Glaubenshaltung von christlichen Theologen in der Ethik-Beratung ausdrücken kann. Welche Bedeutung hat die theologische Sichtweise für meine Frau und mich in unserer unternehmerischen Ethik-Beratung5?

      Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht zuallererst dem „abstrakten Unternehmen“ an sich, sondern all den Menschen, die dort arbeiten. Wir sehen immer den „ganzen Menschen“ als Person mit unantastbarer Würde und der freien Möglichkeit zur Mitgestaltung einer allen Menschen gemeinsamen Wirklichkeit, insbesondere der Arbeitswelt. Es ist eine menschenfreundliche und wohlwollende Anthropologie: Jede Person soll sich – individuell und doch ungetrennt von den Mitmenschen – entfalten können und dabei auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Mitmenschen unterstützen und fördern unter den Aspekten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Beständigkeit. Den Daseinserfahrungen von Angst, Scham und Schuld setzen wir die Erfahrungsmöglichkeiten von Lebensfülle, mitmenschlicher Nähe, Liebe und persönlicher Würde sowie die Möglichkeit zu Umkehr und Dankbarkeit und schließlich auch die Annahme der eigenen Unvollkommenheit gegenüber.

      Als Theologen wecken wir das Bewusstsein für die Endlichkeit der Person – die aber stets unzureichende Rechtfertigung für Nihilismus oder Egozentriertheit bleibt. Als Ethics Counselors erinnern wir an die individuelle und gemeinsame Verantwortung gegenüber den Ressourcen der Biosphäre, die wir nicht nur für uns, sondern auch für künftige Generationen kultivieren müssen. Wir plädieren für die Notwendigkeit einer diskursbasierten Ethik zur gemeinsamen Entscheidungsfindung in Unternehmen zwecks Gestaltung einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft. Wir ermutigen durch Wort und Tat zur bleibenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft auch angesichts ungerechter sozialer Strukturen: für die Hoffnung der Armen und Unterdrückten auf Befreiung. Wir haben Verständnis für die bleibende personale Unvollkommenheit und die Widersprüchlichkeiten des Daseins: Fehlentscheidungen können passieren. Umkehr und Neuanfang sind aber immer wieder möglich – und die „Vergebung“ von Fehlentscheidungen der

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