Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer страница 7
5.2 Regeln oder Prinzipien?
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer regelbasierten und einer prinzipienorientierten Unternehmenskultur? Die BaFin stellt im Konsultationsentwurf zur MaRisk-Novelle fest, dass die MaRisk prinzipienorientiert aufgebaut sind. Was ist aber der Unterschied bzw. Vorteil gegenüber „rein“ regelbasierten Anforderungen? Im rechtswissenschaftlichen Zusammenhang – und der ist für die MaRisk und die Risiko-Kultur entscheidend – sind Prinzipien Grundsätze oder Leitlinien, die möglichst umfassend realisiert werden sollen (englisch: principles, guidelines). Prinzipien sind verbindliche Empfehlungen, deren Umsetzung und Erfüllung in der Praxis oft nur graduell gelingt.17 Verbindlich ist aber, dass man sich nachweislich bemüht, dem Prinzip so gut zu entsprechen, wie es situationsbedingt möglich ist. Sprachlich sind Prinzipien an Formulierungen wie: „Empfehlenswert ist es …“ oder „Bemühen Sie sich …“, „Streben Sie danach, dass …“ usf. erkennbar. Regeln hingegen sind Vorschriften und Normen, die eingehalten werden müssen (englisch: rules and regulations). Die Erfüllung der Regel kennt nur ein Ja oder Nein. Denken Sie beispielsweise an Verkehrsregeln oder an die Abseitsregel des Fußballspiels oder die Regeln einer Poker-Partie. Regeln haben keinen „Empfehlungscharakter“. Hier heißt es typischerweise: „Du musst …“, „Du darfst nicht …“, „Verboten ist es …“. Man erfüllt sie – und tut das Richtige, oder man erfüllt sie nicht – und verhält sich falsch. So wird verständlicher, warum die Anforderungen an die angemessene Risiko-Kultur als Prinzipien und nicht als strikte Regeln formuliert wurden. Normen würden nicht den Spielraum ermöglichen, der nötig ist, damit die inneren Einstellungen und Haltungen kultiviert werden können. Kulturentwicklung kann nicht einfach „verordnet“ und bloß „reguliert“ werden. Kultur muss wachsen können.
5.3 Die Schachmetapher
Der Unterschied zwischen Prinzip und Regel lässt auch anschaulich anhand des Schachspielens erklären. Die Spielregeln des Schachs bestimmen beispielsweise die konkreten Zugvorschriften der Figuren. Andere Regeln betreffen Details wie die Schwarz-Weiß-Struktur der 8 × 8 Felder des Spielfeldes, die Eröffnungsregel „Weiß beginnt“ oder – im weiteren Sinne – den Ablauf eines Schachturniers. Doch wie kann ich in einer konkreten Spielsituation den besseren Zug für mich herausfinden? Die Schachregeln legen zwar eindeutig alle Zugmöglichkeiten fest, liefern aber keinen weiteren Hinweis darauf, wie ich spielen soll. Dann ist die entscheidende Frage: Welcher ist der bessere Zug? Dass ich meinen Turm nicht diagonal ziehen darf, ist weniger relevant als die Frage, ob der Turm überhaupt zum Einsatz kommen soll und gegebenenfalls wie. Spielstrategien sind prinzipienbasiert. Ein Grundprinzip könnte lauten: Tausche keine Figur höherer Wertigkeit – beispielsweise die strategisch wichtige Dame – gegen eine Figur geringerer Wertigkeit – etwa gegen einen Bauern. Doch es ist nicht sinnvoll, dieses Prinzip in jeder Situation sozusagen vollautomatisch anzuwenden. Ein Damenopfer könnte notwendig sein, um im nächsten Zug das Schachmatt zu verhindern. Man spricht von einem „Qualitätsopfer“, wenn durch einen Tausch die strategische Stellung vorteilhafter wird. Manche Strategien spiegeln die Erfahrungen von häufig gespielten Partien wider – beispielsweise die bewährten Zugabfolgen der sogenannten „Eröffnungen“.
„Spielprinzipien“ sind also situationsabhängig zu interpretieren. Schachspieler lernen Partien auswendig und üben mit ihrem Trainer oder Computer. Durch eine komplexe Mischung aus kombinatorischem Vorausdenken, Spielerfahrung und Intuition wird es möglich, eine Stellung zu analysieren, um so schließlich (hoffentlich) den besseren Zug herausfinden zu können. Das Schachspiel hat nur wenige Regeln – und doch gleicht eine Partie kaum jemals exakt der anderen. Computer schlagen zwar inzwischen die weltbesten Spieler, aber die Frage, ob es eine optimale Gewinnstrategie gibt, ist in der Theorie noch unbeantwortet.18 Das ist ein interessantes Phänomen: Auch aus wenigen einfachen Regeln kann eine sehr komplexe Wirklichkeit entstehen.
Wie aber finden wir uns in einer vielfältigen Wirklichkeit zurecht – wie orientieren wir uns in ihr? Und wie das Schachspielen ist die prinzipienbasierte Risiko-Kultur in der Praxis mehr als eine bloße automatische Anwendung von Regeln. Gesetzliche Vorgaben und Normen spannen einen weiten Raum von unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten auf. So wird es möglich, im ersten Schritt richtige von falschen Möglichkeiten unterscheiden zu können. So darf ich meine Figur ziehen – und so nicht! Für die weiteren Schritte aber geben Prinzipien und Erfahrungen Orientierungshilfen. Denn im Sinne der RisikoKultur angemessen zu handeln und zu entscheiden ist nicht ein vollautomatischer Vollzug von Vorschriften, sondern die Kunst und Fertigkeit, die Prinzipien situationsbedingt interpretieren und ihnen möglichst umfassend entsprechen zu können. Der bessere Schachspieler kennt nicht die Regeln besser, sondern hat bessere Ideen für seine Spielzüge. Und diese Ideen verbessern sich durch Übung und reflektierte Spielerfahrung.
Wie sich Angestellte und Führungskräfte einer Bank persönlich entscheidungsfit machen können, wird ausführlich in den Kapiteln 3 und 4 erklärt. Denn schließlich wollen die MitarbeiterInnen nicht nur nichts Unrechtes oder Falsches tun, sondern wie beim Schachspielen unter den (vielen) guten Handlungsmöglichkeiten die bessere herausfinden. Eine nachhaltige Entwicklung der Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn sich wirklich alle Mitarbeiter dafür engagieren und die Geschäftsleitung nicht nur klare Vorgaben macht, sondern sich auch selbst deutlich wahrnehmbar um eine Risiko-Kultur bemüht, die von Verantwortung, Vertrauen, Integrität und Transparenz geprägt ist. Ein Spiel soll Freude bereiten. Wer spielt schon Schach, wenn es ihm keinen Spaß macht? Und auch die Entwicklung der Unternehmenskultur sollte nicht nur als unumgängliche Erfüllung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen gesehen werden. Freude an den gemeinsamen Herausforderungen und an der Möglichkeit der Mitgestaltung sollte auch dabei sein.
5.4 Gibt es ethische Autopiloten?
Lassen Sie uns einen kritischen Blick auf einen „Gegenentwurf“ zum diskursiven Ethik-Ansatz werfen, bevor dieser detaillierter beschrieben wird. Dieser Gegenentwurf ist eine idealisierte Pflichtethik, eine ideale normative Ethik. Es ist ein ethisches System, das ethische Situationen durch die Anwendung von Grundprinzipien immer entscheiden kann und keine Ausnahmen duldet. Ein solches ethisches System verpflichtet, die als richtig erkannte Handlung umzusetzen, es fragt nicht zusätzlich noch einmal nach den möglichen Konsequenzen der Anwendung der Prinzipien.
Es ist ein Gedankenexperiment: Könnte es einen solchen „ethischen Autopiloten“ tatsächlich geben? Ein auf ethischen Pflichtregeln beruhendes deontologisches System (deon, griechisch = Pflicht, Erforderliches) ist jedoch stets mit drei grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert, denen sowohl theoretisch als auch praktisch nur schwer beizukommen ist. Es sind die drei unangenehmen Fragen nach (1.) der Widerspruchsfreiheit der verwendeten ethischen Begriffe sowie (2.) der Konsistenz und (3.) der Vollständigkeit des ethischen Systems. Erstens könnte ein ethischer Begriff oder ein ethisches Prinzip schon