Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer страница 5
Markus HOFER von der BaFin erläutert: „[…] eine angemessene Risiko-Kultur umfasst aber eindeutig mehr als die Kommunikation von Risikotoleranzen, die Entwicklung eines Limitsystems, mittels dessen Risiken begrenzt werden, und die Überwachung der Einhaltung dieser Limits. Vielmehr geht es auch um die Förderung eines kritischen Dialogs innerhalb des Instituts – nicht nur auf den Führungsebenen –, der die frühzeitige Identifizierung von Risiken ermöglicht. Vor allem aber müssen die Institute ein Wertesystem einrichten, dem sich alle Mitarbeiter verpflichtet sehen. Wie die Institute zu diesem Ziel gelangen, bleibt ihnen selbst überlassen; wesentlich wird sein, die Mitarbeiter zu motivieren und zu überzeugen, sich entsprechend des Wertesystems ethisch und ökonomisch wünschenswert zu verhalten“8
Erinnern wir uns kurz daran, was Kultur eigentlich bedeutet. Das Wort leitet sich vom lateinischen Begriff cultura ab, der mit „Pflege“, „Bearbeitung“ oder „Ackerbau“ übersetzt wird. Das lateinische Verb colere bedeutet „bebauen“ oder „pflegen“. Wir Menschen gestalten – kultivieren – also zunächst aus der zugrundeliegenden Natur. Kultur im weiteren Sinn umfasst menschliches Wissen, Kunst, Glauben, Ethik, Recht, Wirtschaft usf. Sie drückt sich aus in Lebensstilen, Weltanschauungen und Werten, wird sichtbar im „Zeitgeist“ der jeweiligen Epoche. So gesehen gibt es nicht die Kultur, sondern eine Vielzahl von sich entwickelnden Kulturen.
Das GABLER-WIRTSCHAFTSLEXIKON definiert Unternehmenskultur als „Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen“. Risiko-Kultur schließlich beschreibt die Art und Weise, wie das unternehmerische Risiko durch die Mitarbeiter „kultiviert“ werden soll. Es geht um ethisch und ökonomisch vernünftiges und wünschenswertes Verhalten. Dabei kommt dem Entwicklungsaspekt große Bedeutung zu: Wie steht es um die aktuelle Risiko-Kultur eines Unternehmens? Vor allem aber: Wie kann sie gefördert und weiterentwickelt werden?
Die BaFin betont zunächst die besondere Verantwortung der Geschäftsleitung: Die Geschäftsleitung muss den Risikoappetit kommunizieren und einen offenen Dialog zu risikorelevanten Fragen ermöglichen und fördern. Da Risikokulturentwicklung offizielle Chefsache ist, müssen ManagerInnen künftig auch nachweislich ethikfit sein. Auch wenn die Führungskräfte eine besondere Verantwortung tragen bei der Entwicklung und Kommunikation der angemessenen Risiko-Kultur, so können die übrigen Angestellten ihre persönliche Verantwortung für die Risiko-Kultur nicht delegieren. Ganz im Gegenteil! Die Umsetzung der Risikovorgaben – des „Risikoappetits“ – bei den unmittelbaren täglichen Aufgaben und Entscheidungen ist die eigentliche Basis der angemessenen Risiko-Kultur. Sie wächst gewissermaßen von unten nach oben – gemäß den von oben nach unten klar kommunizierten Vorgaben. Und mehr noch: Jeder Mitarbeiter muss auch dazu bereit sein, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, und sich bemühen, die Risikorelevanz des unmittelbaren Geschäftsbereiches auch im Gesamtzusammenhang zu verstehen. Eben dazu ist die Dialogbereitschaft – der offene Austausch – mit MitarbeiterInnen, KollegInnen und Führungskräften wesentlich. Risikobewusstsein muss auf allen Ebenen angemessen kultiviert werden. Im Ba-Fin-Fachartikel wird an einer Stelle festgestellt: „Sowohl Geschäftsleitung als auch Mitarbeiter des Unternehmens sollen ihre Tätigkeit am Wertesystem, am festgelegten Risikoappetit und den bestehenden Risikolimits ausrichten. Dafür sind sie jeweils selbst verantwortlich (Accountability). Sie sollen sich über die Konsequenzen bewusst sein, die drohen, wenn sie die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen nicht erfüllen, wenn sie also zum Beispiel zu hohe oder nicht gewünschte Risiken eingehen oder nicht tolerierte Geschäftsaktivitäten und -praktiken entwickeln. Konsequenzen können zum Beispiel disziplinarische Maßnahmen wie Kürzungen der Boni, Abmahnungen oder im Extremfall auch Kündigungen sein.“
Doch nicht alleine die oben erwähnten unangenehmen möglichen Konsequenzen „motivieren“ das persönliche Verantwortungsbewusstsein, sondern die Bewusstwerdung der Tatsache, dass die Auswirkungen eines massiven Risiko-Störfalles wirklich ausnahmslos alle MitarbeiterInnen einer Bank betreffen können. Wenn es ums Risiko geht, sitzen tatsächlich alle im gemeinsamen Boot! Jede unangemessene Entscheidung – auch wenn sie zunächst nicht unmittelbar mit quantifizierbarem Risiko in engerem Sinn in Verbindung gebracht werden kann – kann potentiell einen großen Reputationsverlust bewirken. Der bewusste Umgang mit Reputationsrisiken gehört daher zweifelsohne zur angemessenen Risiko-Kultur. Die BaFin fordert, „dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogen sind“. Jede unternehmerische Entscheidung muss daher unter Reputationsrisiko-Gesichtspunkten angemessen sein. Und jede angemessene unternehmerische Entscheidung ist eine ethische Entscheidung – und umgekehrt. Da die allgemeine Art und Weise der Entscheidungsfindung die Unternehmenskultur so wesentlich prägt, ist die angemessene Risiko-Kultur das Herzstück einer ethischen Unternehmenskultur. Mit ihren neuen Anforderungen hat die BaFin deutlich auf jene Missstände und Phänomene ökonomischer Hybris und Unkultur reagiert, die nachfolgend in 4. detaillierter beschrieben werden. Die nachhaltige Kultivierung einer ethischen Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn möglichst viele Akteure der Finanzindustrie ihre persönliche Mentalität kritisch überprüfen und verändern. Sonst besteht die reale Gefahr, dass die schönen Worte der BaFin wirkungslos bleiben.
4. Hybris und falsche Sätze
4.1 Die Hybris der „sakralisierten Markt-Mechanismen“
Wie schon in der Einleitung kurz erwähnt, werden die Spuren menschlicher Hybris nicht nur im technologischen Bereich, sondern auch in der Wirtschaft und der Unternehmenskultur sichtbar. Und oft wird diese unmenschliche Hybris in falschen Sätzen artikuliert. In Sätzen, die eine Wirtschaft rechtfertigen wollen, von der zum Beispiel Papst Franziskus in Evangelii Gaudium9 sogar wörtlich schreibt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Er wendet sich mit leidenschaftlichen Worten gegen eine Wirtschaft „der Ausschließung“ und der „sozialen Ungleichheit“. Hier klingen gewiss auch konkrete Erfahrungen des Papstes mit der himmelschreienden Armut und sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika an, jedoch ist die Ungerechtigkeit des Wirtschaftssystems ein wirklich globales Phänomen – Franziskus nennt es „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Er bezweifelt den „unbewiesenen“ Ansatz der freien Marktwirtschaft und ihrer „sakralisierten Mechanismen“: die Behauptung, dass eine effiziente Marktwirtschaft schließlich doch irgendwie allen Menschen zugute kommen würde und „von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag“10. Das sind keine Zitate aus dem Hamburger Grundsatzprogramm der SPD, wo sie ebenso gut stehen könnten, sondern aus einer päpstlichen Enzyklika. Und diese Sätze sind wahr: Es ist mehr als fraglich, ob eine sich selbst organisierende freie Ökonomie, die sich nicht grundsätzlich an der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, für möglichst viele Menschen mehr menschenwürdige Arbeit, mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit erbringen kann.
Anfang 2016 war das private Netto-Vermögen11 der 63 wohlhabendsten Menschen der Erde ebenso groß wie das aller anderen – also ca. 7400 000 000 – Menschen. Als Oxfam diese Zahlen veröffentlichte, wiesen einige Ökonomen darauf hin, dass diese doch kein generelles Anwachsen der globalen Ungleichheit belegen würden. Vielmehr würde die Schere zwischen Armen und Reichen unter bestimmten Aspekten sogar geringer, beispielsweise bei der medizinischen Versorgung oder im Bildungswesen. Auch würden langfristige Statistiken belegen, dass es etwa in Europa im 19. Jahrhundert prozentual gesehen mehr Arme gegeben habe als heute oder dass der Mittelstand in China wachsen würde. Wie auch immer: Die Oxfam-Zahlen sprechen deutlich für sich und belegen, dass die freien Marktkräfte jedenfalls nicht verhindern können, dass es grundsätzlich zu solch enormen Ungleichgewichten kommen