Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer
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4.2 Die Hybris der ethosfreien Finanzräume
Die sogenannte Finanzkrise und diverse Unternehmensskandale haben sehr deutlich gemacht, wie unökonomisch unethisches Handeln sein kann. Kurzfristiger Geschäftserfolg wird nämlich langfristig durch den Reputationsverlust mehr als zunichtegemacht, wenn Tricksereien, Rechtsbrüche oder mangelndes Risikobewusstsein öffentlich werden. Der Vertrauensverlust schädigt die Geschäftsentwicklung oft nachhaltig und bringt mitunter ganze Branchen – zu Recht oder Unrecht – in Verruf (und insbesondere auch zur Freude der internationalen Konkurrenz). Hinzu kommen in Einzelfällen die manchmal enorm hohen Strafzahlungen oder außergerichtlich vereinbarten Summen zur Einstellung von Strafverfahren. Werden die Finanzunternehmen dann auch noch mit Steuergeldern „gerettet“, ist die öffentliche Empörung erfahrungsgemäß besonders groß. Der berechtigte Vorwurf lautet sehr verkürzt: Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht.
Falsch ist dieser Satz nicht. Explizites ethisches Denken spielte insbesondere in der Finanzbranche bisher wohl nur eine untergeordnete Rolle. Inzwischen ist aber durch die vielen negativen Erfahrungen auch im EU-Raum die Einsicht gewachsen, dass weder Finanzmärkte noch Finanzinstitute ohne ethisches Bewusstsein sein dürfen. Denn eine zum Teil leider wirklich branchentypische unangemessene Entscheidungs-Unkultur machte es sich sehr einfach und unterscheidet nur sehr oberflächlich zwischen falschem und richtigem Handeln. Dieses falsche Denken gipfelt in dem falschen Satz: Richtig ist alles, was nicht gesetzlich verboten ist. Dadurch entsteht aber bei Entscheidungsträgern allzu leicht der Eindruck, dass es bezüglich der Handlungsoptionen jenseits der Grenzen des eindeutig Falschen gar keine ethisch relevanten Fragen mehr zu stellen oder zu beantworten gäbe. Als Investmentbanker fragte ich also bei den Kollegen der Compliance- und Rechtsabteilung nach : Ist diese Transaktion auch legal? Im Zweifelsfall bezahlte ich noch ein externes Rechtsgutachten, um die Durchführbarkeit des Geschäfts rechtfertigen zu können. „Mylord, is this legal?“, fragt der Chef der Handelsföderation Nute Gunray seinen Auftraggeber Lord Sidious im Film Star Wars I. „I’ll make it legal!“, erhält er als Antwort. Nicht alle Investmentbanker sind potentielle Star-Wars-Bösewichte, aber wenn die rechtlichen Bedenken einmal zerstreut sind, werden darüber hinaus meist keine weiteren Fragen mehr gestellt. Just close the deal! Warum sollte ich auch ethische Bedenken haben? Wenn es nicht illegal ist, ist es ethisch irrelevant. Im Übrigen machen’s die Konkurrenten ja genauso und das Quartalsziel muss erreicht werden.
Der falsche Satz lautet also: Jenseits der Grenze des normativ Falschen liegt ein ethosfreier Raum12 Als Konsequenz dieser Haltung haben sich ethischer Anarchismus und persönliche Doppelmoral bei manchen Finanzinstituten und Marktteilnehmern hartnäckig etabliert.13 Die Hybris besteht also in einer sehr verkürzten Sichtweise unternehmerischer Ethik: in der Einstellung, dass alles möglich und machbar sei, was nicht den Vorschriften widerspreche. Die Hybris drückte sich auch aus in der besonders verhängnisvollen Selbsteinschätzung einer Investmentbank, die sich für „systemrelevant“ und daher „too big to fail“ hielt. Zumindest ein Teil dieser Annahme war offensichtlich falsch, denn die Bank ging pleite und das Finanzsystem überlebte dennoch – wenn auch nur durch entsprechende Interventionen und Hilfsmaßnahmen der Zentralbanken. Heftig diskutiert wird seither die Frage, ob oder mit welcher Effizienz sich der Finanzmarkt überhaupt selbst regulieren kann – resp. in welchem Ausmaß Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Politik steuernd und regulierend eingreifen sollen. Die Alternativen erscheinen ein bisschen wie die unglückliche Wahl zwischen Skylla und Charybdis14: Entweder werden die Märkte durch die Vorschriften überreguliert und dadurch die Wirtschaft in ihrer Effizienz geschwächt, oder es besteht weiterhin die Gefahr, dass die sich selbst überlassenen Märkte doch wieder außer Kontrolle geraten.
Ist der freie Markt aber notwendigerweise unethisch bzw. ethosfrei? In der „alten“ Physik gab es das Prinzip des horror vacui – die „Furcht der Natur“ vor leeren Räumen. Hat der freie Markt vielleicht selbst auf irgendeine Weise Furcht davor, ethosleer – ethosfrei – zu sein? Denn die Erfahrung zeigt, dass vermeintliche ethische Irrelevanz unethisches und widersprüchliches Verhalten fördert, das die Marktentwicklung massiv beeinträchtigt. Ist es daher denkbar, dass der freie Markt sich selbst ethisch reguliert? Könnte die Emergenz einer Marktethik im Sinne einer neuen spontanen und unabhängigen Systemeigenschaft möglich sein? Eine solche Systemeigenschaft würde sich nicht mehr alleine in die Eigenschaften der Komponenten zerlegen lassen. Daher spiegelte eine solche Marktethik dann etwas anderes wider als den bloßen Durchschnitt oder die Summe der Ethik der (menschlichen) Marktteilnehmer. Vielmehr würde der freie Markt dann seine eigenen, vom Menschen unabhängigen, ethischen Prinzipien entwickeln. Ob wir diese verstehen könnten – und ob sie im Sinne der Menschen beispielsweise für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen würden –, ist nochmals eine andere Frage. Wäre eine nicht-menschliche Markt-Intelligenz menschenfreundlich oder unmenschlich? Die aktuelle globale ökonomische Situation liefert jedenfalls keine positiven Hinweise auf eine Form selbst-emergierender menschenfreundlicher Marktethik.15 Bezüglich der Frage, wie frei oder unfrei der Markt denn sein solle, plädiere ich für einen Ansatz, der die Regularien fortwährend kritisch hinterfragt – so viele Regularien wie nötig und stets unter den Aspekten der Subsidiarität, Freiheit und Gerechtigkeit – und zugleich auf einer Selbststeuerung mündiger und verantwortungsbewusster Marktteilnehmer beruht, die sich in offenen Gesprächen über die Marktsteuerung austauschen. Diese Dialogbereitschaft wäre ganz im Sinne der angemessenen Risiko-Kultur für Finanzunternehmen, wie sie von der BaFin gefordert wird. Die persönliche Mündigkeit setzt aber beim Einzelnen die Wiederentdeckung des eigenen Gewissens und eine innere Haltung voraus, die nicht im radikalen Konstruktivismus oder Egoismus steckenbleibt, sondern bereit ist, die eigenen Grenzen zu beachten und überdies auch Phänomene der Transzendenz wahrzunehmen. Dann besteht wirklich eine Chance, die Hybris der ethosfreien Räume endgültig zu überwinden.
Ein anderes negatives Beispiel unternehmerischer Hybris zeigt sich in der Gestaltung von Kundenbeziehungen. Denn Kunden fühlen sich zunehmend als unmündige Objekte des Marketings – und nicht mehr als Personen in einem personenorientieren Kommunikationsgeschehen. Als Folge verschließen sie sich – trotz des Einsatzes effektiver Kommunikationsmittel – immer stärker gegen Marketing- und Akquisitions-Maßnahmen. Denn nicht der eigentliche Mensch und seine eigentlichen Bedürfnisse stehen mehr im Vordergrund, sondern seine Verzweckung, seine objektive wirtschaftliche Nützlichkeit. Ähnliches gilt für Mitarbeiter in Unternehmen. Sie erfahren sich als austauschbare Objekte des Betriebes. Schon die Verwendung von Objektsprache kann auf eine systematische Fehlhaltung hinweisen. Kunden werden dabei typischerweise als „Verbraucher“, „Konsumenten“, „Benutzer“, „Targets“ usf. bezeichnet. Mitarbeiter von Unternehmen werden mit Chips ausgestattet und ihre Arbeit oft ohne ihr Wissen überwacht und von Maschinen protokolliert. Das maschinenunterstützte ökonomische System verfügt über Kunden und Mitarbeiter als „Objekte“ und übt Macht über sie aus. Dabei passt sich das System nicht den Bedürfnissen der Menschen an, sondern den Effizienzanforderungen der Maschinen.16 Dennoch bleiben viele Menschen auf diese Wirtschaft und auf solche Arbeitsverhältnisse angewiesen – und das führt nachvollziehbar zu großer Frustration und Ängsten, die leider auch eine der Quellen politischer Radikalisierung sind.
5. Prinzipienbasierte Unternehmenskultur
5.1 Compliance als Basis der Risiko-Kultur
Beim Begriff Ethik und ethische Unternehmenskultur denken unsere Kunden beim Erstgespräch erfahrungsgemäß zunächst meist an einschränkende moralische Verhaltenskodizes, ethische Vorschriften, Regelwerke o. Ä. Schlimmer noch: Ohne es jemals tatsächlich ausgesprochen zu haben, halten sie uns manchmal vermutlich für verkappte Moralapostel. Nichts liegt uns ferner, denn solche ethischen Systeme und Vorschriften-Gestelle würden die unternehmerische Freiheit – die ohnehin schon durch unzählige Vorschriften und Regulierungen begrenzt wird – nur noch weiter belasten. Sie sehen in der Unternehmensethik eine Form von „moralischer Compliance“ mit hocherhobenem Zeigefinger. Aber genau das verstehen wir unter unternehmerischer Ethik-Kultur oder