Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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in Split sesshaft und entwickelte sich zu einem bedeutenden Symbol der kroatischen Identität. Allerdings war der Begriff der nationalen Identität höchst umstritten. Als Tito Jugoslawien als sozialistischen Bundesstaat von sechs Teilrepubliken wiederauferstehen ließ, wollte er die regionalen Unterschiede in einem sozialistischen Ganzen aufgehen lassen. Dass ausgerechnet Fußballfans den schlafenden und gefährlichen Nationalismus wecken könnten, ahnten wohl nur wenige der Machthaber, als die Hajduk-Anhänger sich nach der WM 1950 in Brasilien, an der Jugoslawien teilgenommen hatte, anschickten, mit einer neuartigen Fanorganisation den Gesängen und der Leidenschaft der brasilianischen torcida-Fangruppierungen nachzueifern. Laut einer Gründungslegende erzählten Seeleute von der Insel Korčula nach ihrer Rückkehr von der WM nach Split unvorstellbar klingende Geschichten von den brasilianischen Fans, die mit Musikinstrumenten, Leuchtfeuern und Cleverness ihrer Mannschaft einen Vorteil verschafft hätten. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die jugoslawischen Spieler selbst von ihren Eindrücken berichtet haben.

      Der jugoslawischen Mannschaft, die zuvor, 1948, bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille gewonnen hatte, gehörten fünf Hajduk-Spieler an, darunter der junge Torhüter Vladimir Beara. Als Lew Jaschin 1963 den Ballon d’Or erhielt, erklärte er in seiner Dankrede, er sei überhaupt nicht der beste Spieler der Welt. Er sei noch nicht einmal der beste Torwart der Welt. Diese Ehre gebühre Beara.3 Auch wenn die enttäuschten Jugoslawen bei der WM 1950 von Brasilien aus dem Turnier geworfen wurden, waren sie von den Zuschauern tief beeindruckt. 142.000 Menschen waren zu dem Spiel ins Maracanã von Rio geströmt. In Europa war es bis dahin üblich, dass die kaum organisierten Fans ihre Mannschaft auf eher beschauliche Art unterstützten. Doch nun lieferten Beara und sein Hajduk-Teamkamerad Bernard Vukas einer Gruppe von in Zagreb studierenden Hajduk-Fans unfassbare Berichte von dem, was sie im Maracanã gesehen und gehört hatten. Beara beschrieb bildlich den fremdartigen Sound, für den die torcida in den Stadien sorgte: »Sie waren wie eine Maschine, die für ihr Heimatland und ihre Nationalmannschaft stampfte.«4

      Die Hajduk-Fans beschlossen, genau dasselbe zu versuchen. »Den Ausschlag gegeben hat ganz sicher das, was wir ihnen erzählt haben. Das kann gar nicht anders sein, denn sie wussten nicht, dass es so etwas wie die torcida überhaupt geben konnte.«5

      Hajduks Splits Torcida wurde just in dem Moment gegründet, da für ein ganz besonderes Spiel eine ganz besondere Atmosphäre vonnöten war, vier Monate nach Jugoslawiens Niederlage gegen Brasilien am anderen Ende der Welt. Am vorletzten Spieltag der ersten jugoslawischen Liga musste Hajduk gegen Roter Stern Belgrad antreten. Mit einem Sieg hätte der Verein seinen allerersten Titel so gut wie sicher gehabt. Die Torcida-Anführer rüsteten ihre Mitglieder mit »Schulglocken, Trompeten, Rasseln und Pfeifen [aus] und bestiegen mit ihnen den Zug nach Split«6. Am 28. Oktober 1950 wurde die Torcida offiziell gegründet. Unterstützt von lokalen Funktionären der Kommunistischen Partei suchten Hunderte Torcida-Mitglieder das Mannschaftshotel von Roter Stern auf und brachten den Spielern ein Ständchen, »ein mitreißendes Konzert, bei dem sie ihren Instrumenten schrille Töne entlockten und damit die Vorbereitung des Gegners störten«7. Rund 20.000 Fans quetschten sich am 29. Oktober in das Stadion Stari plac im Zentrum von Split, um das Spiel auf dem Ascheplatz zu verfolgen. Zunächst wurde der Torcida und ihren Instrumenten der Eintritt verweigert, doch dann schaltete sich Hajduks Präsident (ein hochrangiger Funktionär der Kommunistischen Partei) ein. In einer örtlichen Parteizeitung hieß es, das Stadion »glich einem Hexenkessel. Die Schlacht auf dem Spielfeld nahm begleitet von der frenetischen Unterstützung der Zuschauer ihren Lauf … Alle – die Spieler auf dem Feld und die Zuschauer auf den Tribünen – kämpften Seite an Seite.«8

      Der Torcida gelang es tatsächlich, die fiebrige Atmosphäre Brasiliens zu kopieren. Doch die Sache lief aus dem Ruder. Mitten im Spiel schlug ein Hajduk-Spieler dem Kapitän von Roter Stern ins Gesicht, und als Hajduk kurz vor Schluss den 2:1-Siegtreffer erzielte – und damit den Titel so gut wie in der Tasche hatte –, stürmten die Zuschauer das Feld. (Letztlich sollte Hajduk als einzige Mannschaft der jugoslawischen Geschichte ungeschlagen Meister werden.) Am Abend feierte die Torcida in der Altstadt, und ein Mitglied verlas vor der Menge einen Nachruf auf Roter Stern Belgrad. In Belgrad wurde das Spektakel verurteilt, und eine Zeitung beklagte den »Höllenlärm« der Torcida und dass die Gruppe an »unzivilisierten und obszönen Vorfällen«9 beteiligt gewesen sei. Die Kommunistische Partei war erschrocken über das unverhüllt kroatische Gebaren der Torcida und fürchtete, dadurch könnten nationalistische Tendenzen geschürt werden, zumal die faschistische Ustascha erst fünf Jahre zuvor besiegt worden war. Sie griff zu rabiaten Maßnahmen. Drei der Torcida-Gründer wurden aus der Partei ausgeschlossen. Der Schiffsjunge Vjenceslav Žuvela von der Insel Korčula, der maßgeblich an der Gründung beteiligt gewesen war, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings wurde die Strafe im Nachhinein auf drei Monate reduziert. Hajduk durfte 50 Jahre lang das rot-weiße Schachbrettmuster der kroatischen Flagge nicht in seinem Vereinswappen verwenden. Die Torcida erlebte nur dieses eine Spiel, dann wurde sie verboten. Doch so kurzlebig die Torcida auch war, als Europas erste organisierte Fanvereinigung entfaltete sie eine enorme Wirkung. Hajduk Split war seinem dišpet-Ruf wieder einmal gerecht geworden. Ein rebellischer Klub für eine rebellische Stadt.

      Nach Titos Tod 1980 zerfiel Jugoslawien und steuerte in einer zehnjährigen Abwärtsspirale auf einen grausamen ethnisch-nationalistischen Krieg zu, derweil die Torcida als Stimme des Nationalismus in Split ein Comeback feierte. Auch in den anderen jugoslawischen Republiken entstanden neue Fanclubs, wesentlich beeinflusst von den italienischen Ultra-Gruppen, die jenseits der Adria ihre Hochzeit erlebten. Jede einzelne der neuen Gruppen kündigte bereits den zerstörerischen Nationalismus an, der am Horizont aufzog. Begegnungen von Dinamo oder Hajduk gegen Roter Stern Belgrad endeten oftmals mit Krawallen, bei denen die jeweiligen Ultras in vorderster Front standen.

      Nach dem Unabhängigkeitskrieg trat Dinamo Zagreb an die Stelle von Roter Stern als Hajduks Erzrivale. Der neue, nationalistische Präsident des Landes, Franjo Tuđman, wollte Dinamo Zagreb zum nationalen Aushängeschild machen. Allerdings war ihm der Name »Dinamo« als zu kommunistisch verhasst, und so wurde der Klub kurzzeitig in Croatia Zagreb umbenannt.10 Im Februar 2000, zwei Monate nach Tuđmans Tod, kehrte der Verein zu seinem alten Namen Dinamo zurück. In den Nullerjahren leitete Zdravko Mamić die Geschicke des Vereins, ein korrupter Funktionär, der lange den kroatischen Fußball kontrollierte und sich bis heute in Bosnien-Herzegowina dem Zugriff der kroatischen Justiz entzieht, nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt wurde.11 Hajduks Ultras hatten die Proteste gegen ihn und seine Helfershelfer im kroatischen Fußball angeführt. Bei der EM 2016 hatten Torcida-Mitglieder aus Protest gegen den kroatischen Fußballverband HNS in St. Etienne Bengalos auf das Spielfeld geworfen, dabei hatte Kroatien in Führung gelegen. Nach der Partie war es unter den kroatischen Fans zu Schlägereien gekommen.12 Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Italien 2015 war ein riesiges Hakenkreuz auf den Rasen des Poljud-Stadions gemalt worden, obwohl das Spiel aufgrund rassistischer Sprechchöre bei einem vorangegangenen Spiel ohnehin schon vor leeren Rängen stattfinden musste.13 Vermutlich hatte der Verband in Zagreb mit der Aktion noch stärker in Verlegenheit gebracht werden sollen. Mamić war sogar in die Adria gestoßen worden, als er auf der vor Split gelegenen Insel Brač aus einem schicken Restaurant gekommen war. Dass der Angreifer der Torcida angehört hatte, war nicht bewiesen worden, dennoch kritisierte Mamić die Gruppe kurz darauf in einem in den sozialen Medien veröffentlichten Brief. »Ihr könnt euch nur hinter dem Wort ›Torcida‹ verstecken und so tun, als ob ihr Helden wäret. Doch als Hajduk ausgenommen wurde, habt ihr kein Wort gesagt.«14

      Mamić spielte in seinem Post auf das Jahr 2011 an, als Hajduk nach Jahren des Missmanagements und der Korruption beinahe in die Insolvenz geschlittert wäre. Allerdings erwähnte er nicht, dass die Torcida mit einem Mamićs Profitmaximierung entgegengesetzten Modell zur Rettung des Klubs beigetragen hatte. Eine Gesellschaft namens Naš Hajduk (»Unser Hajduk«) war gegründet worden, um den Klub nach strengen, demokratisch überwachten Grundsätzen zu führen. Die Torcida erwarb Anteile des Vereins, bis sie über annähernd 25 Prozent verfügte und damit eine Kontrollfunktion ausüben konnte.

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