Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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verlangte, die Geschichte mithilfe eines Duells im Parque Central zu klären, und Beltrán ließ sich darauf ein. Die New York Times berichtete: »Die Duellanten trafen sich in strömendem Regen auf einem Fußballfeld. Wegen des Regens behielten beide ihre Hüte auf, doch Beltrán tauschte seinen Strohhut gegen ein Modell aus Filz, damit die Voraussetzungen für beide gleich waren.« Der Hutwechsel sollte Beltrán nichts nützen. Beide verfehlten mit dem ersten Schuss den anderen, doch »bevor Beltrán ein zweites Mal feuern konnte, wurde er von einer Kugel aus Batlles Pistole getroffen und sank tödlich verwundet zu Boden«.21

      Zwei Jahre zuvor hatte sich die wohl bemerkenswerteste Geschichte zugetragen. In ihrem Mittelpunkt stand einer von Nacionals größten Spielern. Abdón Porte war ein harter, doch zugleich kultivierter Mittelläufer und von 1911 bis 1918 sieben Saisons lang Nacionals Kapitän. Wegen seiner indigenen Herkunft erhielt er den Spitznamen El Indio, doch während im brasilianischen und argentinischen Fußball der Zeit noch komplizierte ethnische Hierarchien herrschten, stand Porte in Uruguay der Weg nach ganz oben offen. Er absolvierte mehr als 200 Partien und wurde viermal Meister. Doch 1918 erlitt er im clásico gegen Peñarol eine schwere Knieverletzung. Da Auswechslungen noch nicht erlaubt waren, wurde Porte einfach nach vorne beordert. Nacional siegte mit 4:2, allerdings erholte Porte sich nie mehr vollständig von der Verletzung und Nacional musste ihn ersetzen. Das letzte Mal lief er bei einem 3:1-Sieg gegen Charley auf. Trotz einer guten Leistung betrat Abdón Porte später am Abend ein allerletztes Mal den Rasen des inzwischen stillen und dunklen Parque Central, stapfte zum Mittelkreis und schoss sich mit einem Revolver ins Herz. Man fand ihn am folgenden Morgen, zwei Abschiedsbriefe in seinem Hut. Der eine lautete:

      Nacional,

      Obwohl zu Staub verwandelt,

      Und im Staub auf ewig geliebt,

      Werde ich nie auch nur einen Moment vergessen,

      Wie sehr ich dich geliebt habe.

       Leb wohl.22

      Die uruguayischen Profis erschienen geschlossen bei Portes Beerdigung, und der Trauerzug soll eine Länge von 15 Kilometern gehabt haben. Mehr als 100 Jahre danach schmückte sein Gesicht ein Banner auf der nach ihm benannten Westtribüne des Parque Central, zusammen mit dem Schriftzug Por la Sangre de Abdón (»Für Abdóns Blut«). Porte ist zu einem Symbol für die bedingungslose Hingabe geworden, die von den Zuschauern erwartet wird.

      Der Fußball trug entscheidend zur Entwicklung der uruguayischen Identität bei. So ließ das Land zum Beispiel laut Pou als erstes in Südamerika ausdrücklich »dunkelhäutige Spieler im Fußball« zu. Das kleine Land war durch Sklaverei und die Einwanderungswellen aus Europa ausgesprochen multikulturell, zugleich war es umgeben von weit mächtigeren Nachbarn mit kolonialen Ambitionen. Pou sagte: »Fußball war der Kitt, der die Nation vereinte. Als vergleichsweise junges Land waren wir zwischen Brasilien und Argentinien eingeklemmt. Doch Fußball? Durch ihn hatten wir das erste Mal das Gefühl, dass es etwas gibt, was unser ist. […] Er veränderte die uruguayische Gesellschaft.«

      Die meisten Darstellungen des uruguayischen Fußballs konzentrieren sich durchaus zurecht auf seine außerordentlichen Erfolge und auf die Stars, die er hervorgebracht hat. Weit weniger Platz wird der Suche nach Erklärungen für das Phänomen des Publikums eingeräumt, der Frage also, wieso in Uruguay eine derart unzweifelhafte Leidenschaft für das Spiel herrscht. Als Pou und die übrigen Mitglieder von Nacionals historischer Kommission sich vor einigen Jahren auf die Suche nach vergessenen Geschichten der Vereinshistorie machten, entdeckten sie Zeitungsausschnitte, Fotografien und Notizen zu Miguel Reyes’ Auftritten am Spielfeldrand. Auf einer berühmten Fotografie der aus elf Nacional-Spielern bestehenden Nationalmannschaft von 1914 ist nur eine weitere Person zu sehen – Miguel Reyes, buchstäblich der zwölfte Mann. Sigmund Freud stellte in seiner Abhandlung Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 dar, dass in der Masse die unbewussten Triebe von Gruppen von Individuen mit ähnlichen Interessen, die durch ein Liebesobjekt zusammengehalten werden, freigesetzt werden können. Häufig ersetze ein charismatischer Führer die Fähigkeit des Individuums, sein Es – den niederen, instinktiven Teil der Persönlichkeit – zu regulieren. Reyes war Nacionals kollektives Es. Sein Auftreten war ansteckend, wie Pou erkannte. »Was uns stolz macht, ist die Tatsache, dass er der erste Fußballfan war, der so etwas gespürt hat, der vor Begeisterung gebebt hat. Der das Spiel gelebt hat.« Pou ergänzte, es mache »einen Riesenunterschied, ob man einen Film schaut oder in ihm mitspielt«.

      Eine halbstündige Autofahrt brachte mich vom Stadion zu Ernesto Reyes. Auf einem alten, mit grünem Filz bezogenen Spieltisch breitete er die Handvoll braunstichiger Fotos aus, die er von seinem Urgroßvater besaß. »Hier, das ist er mit meiner Urgroßmutter. Sie hatten fünf Kinder«, sagte er. Das Foto war beinahe vollständig verblichen. Er legte ein anderes daneben: Miguel Reyes und seine Frau an ihrem Hochzeitstag. »Miguel war verwitwet, darum trug meine Urgroßmutter Schwarz«, kommentierte er. In dem kleinen Spielzimmer befand sich alles, was von Prudencio Miguel Reyes noch vorhanden war und was man über ihn wusste. Auch das Foto, das ich bereits aus dem Museo del Fútbol kannte, hing dort. Es gab Rechnungen seines Ledergeschäfts. Ein paar Briefe. Abgerissene Eintrittskarten von Nacional-Spielen. Ein Büchlein, in dem er die Ergebnisse sämtlicher Begegnungen von Nacional und Peñarol aufgelistet hatte, beginnend mit einem 2:0-Sieg von Peñarol am 15. Juli 1900. Eine Mate-Kalebasse mit seinem Monogramm. Das war alles. Alles, was man über Prudencio Miguel Reyes’ Leben weiß, passte in einen Schuhkarton.

      Ernesto nannte Miguel Reyes’ Geschichte eine verschwindende Legende. Reyes war verhältnismäßig jung gestorben und hatte seine Witwe mit den fünf Kindern zurückgelassen. Doch niemand wusste, wie oder wo er gestorben war. Ernesto fragte mich: »Wie viel wissen Sie über Ihren Urgroßvater? Wir kannten nur die Geschichte unserer Urgroßmutter und dass sie es als Witwe irgendwie schaffte, ihre fünf Kinder durchzubringen.« Auch Ernesto und seine beiden Brüder waren mit einem leidenschaftlichen Fan in der Familie aufgewachsen. Ihr verstorbener Vater war besessen von Nacional gewesen. »Er war superfanatisch«, sagte Ernesto. Irgendwann hatten seine Söhne ihn nicht mehr ins Stadion begleiten können, da er andauernd Streit mit anderen Fans angefangen hatte. Eine Farbaufnahme des Vaters hing neben einem Bild von Miguel Reyes. Der Vater stand lächelnd und mit ausgebreiteten Armen in Nacionals Trophäenraum. Ernesto schilderte mir, wie er einmal mit seinem Vater ein Nacional-Spiel besucht hatte und der Vater in eine erbitterte Auseinandersetzung mit anderen hinchas geraten war. Die Sache sei eskaliert, und sein Vater habe die Uhr abgenommen, ein unmissverständliches Zeichen, dass es ernst wurde. »Das war bei einem Freundschaftsspiel zwischen Nacional A und Nacional B!« Ernesto lachte. »Und es endete mit einer Schlägerei zwischen meinem Vater und anderen Nacional-Fans.«

      In der Familie hieß es, dass, was auch immer Prudencio Miguel Reyes gepackt hatte, auch Ernestos Vater befallen habe. Dass man es »im Blut« habe. Ernesto erklärte: »Es überspringt immer eine Generation.« Sein Großvater, Miguel Reyes’ Sohn, war ein zurückhaltender Mann gewesen, hatte Klarinette gespielt und sich kaum für Fußball interessiert. Doch Ernestos Vater war mit Leib und Seele hincha gewesen. Ernesto mochte Fußball und sympathisierte mit Nacional, doch der Sport war ihm und auch seinen beiden Brüdern nicht übermäßig wichtig. Ihre Kinder dagegen waren glühende Nacional-Fans. Über seinen Sohn sagte Ernesto: »Er ist Mitglied der barra, steht bei der Fahne. Sogar zum Basketball geht er. Er ist echt verrückt.« Auch seine älteste Tochter hatte das Virus erwischt. »Sie hat das Gen, aber wir haben dem ein Ende gesetzt, weil sie eine Frau ist«, sagte er und fügte rasch hinzu, dass das nichts mit Diskriminierung zu tun habe. Sie wüssten einfach, wie gefährlich es in der barra sein könne. »Ich weiß, dass das diskriminierend ist, ja, aber damals war eine Frau in einer barra einfach nicht gern gesehen. Heute ist das anders.«

      Die Reyes hatten sich schon immer gefragt, wieso ihre Familie in jeder zweiten Generation von dieser unbezähmbaren Nacional-Leidenschaft befallen wurde. Prudencio Miguel Reyes

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