Unter Ultras. James Montague
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Er [Macri] sprach von seiner Zeit als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors als einer hervorragenden politischen Lehrzeit (hinsichtlich Themen wie der Regelung des Zugangs zu Presseräumen und der Umkleidekabine, der Besetzung von Posten und die Durchsetzung geschäftlicher Entscheidungen gegenüber 15.000 Mitgliedern). Er sagte, dass die landesweite Fanbasis des Vereins sein bedeutendster politischer Aktivposten sei: »Jegliche politische Unterstützung außerhalb von Buenos Aires verdanke ich zu 90 Prozent meiner Tätigkeit bei Boca und zu zehn Prozent meinem Posten als Bürgermeister von Buenos Aires.«29
Wie ihn die Erfahrungen aus seiner »politischen Lehrzeit« zurecht hatten vermuten lassen, wurde der super-superclásico 2018 in der Tat zu einem Desaster für Argentiniens Image. Das Rückspiel musste abgesagt werden, da der Boca-Mannschaftsbus auf dem Weg ins Estádio Monumental von River-Plate-Fans attackiert wurde und die Polizei Tränengas einsetzte, das mehrere Boca-Spieler einatmeten. Twitter-Videos des Klubs zeigten, wie sie sich in der Kabine übergaben. Wegen der angespannten Sicherheitslage wurde beschlossen, das Spiel an einem neutralen Ort auszutragen.30 Die Wahl fiel auf Madrid – eine gewaltige Demütigung für Südamerika, denn eigentlich ehrt der Name des Wettbewerbs die Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal. River Plate gewann den Titel, und der südamerikanische Fußballverband CONMEBOL beschloss anschließend, dass der Wettbewerb künftig stets durch ein einziges Finalspiel an einem neutralen Ort entschieden würde.
Seit einigen Jahren sinkt immerhin die Zahl der von gegnerischen Gruppen getöteten Fans. Inzwischen gehen die meisten Todesfälle auf Abrechnungen innerhalb einzelner barras zurück, vornehmlich, weil sie ihre geschäftlichen Tätigkeiten stark ausgeweitet haben – auf Ticketschwarzhandel, Parkgebühren, Schutzgeld und Drogen – und mittlerweile eher mafiösen Organisationen als Fanclubs gleichen. Bocas bedeutendste barra La Doce erlebte in den vergangenen zehn Jahren unzählige solcher Abrechnungen. Der Präsident Rafael di Zeo ist einerseits ein Showman, andererseits ein gefürchteter Boss. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat er La Doce zu einer beeindruckenden und mächtigen Gelddruckmaschine mit weitreichenden Beziehungen zum politischen Establishment des Landes umgebaut. Doch Geld und Macht riefen Rivalen auf den Plan. Als Rafa, wie er gemeinhin genannt wird, wegen seiner mutmaßlichen Rolle bei den Krawallen von 1999 zwischen den Fans von Boca und Chacarita Juniors 2007 zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, nahm mit Mauro Martin einer seiner Unterbosse seinen Platz ein. Und dieser weigerte sich, den Posten zu räumen, als Rafa 2009 freikam.
Es folgte ein blutiger Kampf um die Macht – »Der Krieg« –, der Dutzende Opfer forderte. Mauro selbst wurde angeschossen, überlebte jedoch. Schließlich wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Rafa kehrte an die Spitze zurück, und Mauro wurde als sein Stellvertreter eng eingebunden. In Mikaels Augen handelte es sich um einen wackeligen Waffenstillstand, der jeden Moment gebrochen werden konnte. Mikael hatte einen alten Kumpel bei La Doce angerufen, der sich noch an seinen kurzen Ruhm als bekanntester Hooligan von Buenos Aires erinnern konnte. Er hatte gesagt, dass Mauro sich bereiterklärt habe, uns am darauffolgenden Tag vor dem Boca-Spiel in Bajo Flores zu treffen. Im abschließenden Gruppenspiel der Copa Libertadores erwartete Boca zu Hause Athletico Paranaense. Boca hatte sich bereits für die K.-o.-Phase qualifiziert, doch für Mikael war es die Chance, in sein geliebtes Estadio Alberto L. Armando zurückzukehren, von allen zärtlich »La Bombonera« genannt. Und immerhin stand noch etwas nicht ganz Unwichtiges auf dem Spiel. Durch einen Sieg würde Boca Juniors in dieselbe Hälfte des Turnierfeldes wie River Plate gelangen, sodass die beiden im Halbfinale aufeinandertreffen konnten. Mauricio Macri lag falsch. Es musste nicht unbedingt 20 Jahre dauern, bis der Unterlegene sich von der Niederlage im superclásico-Finale der Copa Libertadores würde erholen können. Das Schicksal winkte Boca nach nicht einmal zwölf Monaten mit der Möglichkeit zur Vergeltung.
In einem westlichen Außenbezirk von Buenos Aires waren in beeindruckenden renovierten Räumlichkeiten drei Künstler an ihren Leinwänden beschäftigt. Aus dem Radio schallten System of a Down, und die Sprühdosen zischten. Der Geruch von Lösungsmitteln hing schwer in der Luft. An einer Wand widmete sich einer der Männer einem telon für San Lorenzo, einem riesigen weißen Banner, auf dem er gerade die Vorzeichnung von zwei Trommeln farbig ausarbeitete. Ein zweiter saß an dem Porträt von Eva Peron mit der argentinischen Flagge als Hintergrund, das für die hinchas der Nationalmannschaft bei der bevorstehenden Copa América in Brasilien bestimmt war. Der dritte verlieh für das anstehende Boca-Spiel einer kleineren Fahne in Blau und Gold mit dem Twitter-Hashtag der Boca-Juniors-Nachwuchsfans, @JuvenilXeneizes, den letzten Schliff. Pepe Perretta, der eine rote Truckermütze mit dem Aufdruck »Buenos Aires Aerografia« trug, erklärte: »Die ist nicht für La Doce, sondern für die normalen hinchas.« Er musterte die Arbeit seiner Leute mit einer unangezündeten Selbstgedrehten im Mund.
Die Frage nach dem Ursprung der riesigen Blockfahnen – der telon –, die bei Fußballspielen ganze Ränge verhüllen, ist bis heute ungeklärt. Doch über den momentan besten telon-Künstler der Welt besteht kein Zweifel. Pepe Perretta hat mehr als 100 dieser Monumentalwerke geschaffen, und jedes davon erzählt eine eigene Geschichte von den jeweiligen Auftraggebern. Die Wände in Pepes Büro im Obergeschoss waren übersät von signierten Trikots und Fotografien, die ihn mit argentinischen Legenden zeigten. Eine Ecke des Raums wurde durch ein Originalstück des mit Stacheldrahtkrone versehenen Zaungitters aus dem Stadion von Pepes Lieblingsklub Nueva Chicago abgetrennt. Hinter dem Zaunstück befanden sich neben Hunderten von Trikots und Schals auch Dutzende Bücher über seinen Helden Diego Maradona und etliche signierte Fotografien des Spielers. Auch Messi hatte Pepe ein Trikot geschickt. Jedes einzelne Stück hier war ein Geschenk von hinchas, Spielern oder auch Päpsten als Dankeschön für die beeindruckenden öffentlichen Kunstwerke, mit denen Pepe sie geehrt hatte. Auch der gigantische telon mit dem Papst, Messi und Maradona für die barra von Godoy Cruz war Pepes Werk gewesen.
Pepes Arbeiten waren weltweit bereits in den Kurven und auf den Rängen der größten Stadien zu sehen gewesen: in Kolumbien und Chile, in Italien bei Napoli, Inter, Lazio, Torino und der Fiorentina, in Spanien bei Barcelona und Atlético Madrid. In Argentinien hatte er für unzählige unvergessliche Momente gesorgt, etwa durch seinen berühmten telon zu Ehren von Sergio Agüero kurz vor dessen Wechsel von Independiente zu Atlético Madrid oder einen telon von 350 Meter Länge, der annähernd das gesamte Racing-Club-Stadion verhüllt hatte. Gerade hatte er mit Saudi-Arabien telefoniert, für das er eine 500-Meter-Flagge schaffen sollte, ein neuer Weltrekord. Begonnen hatte alles 2006, nicht zuletzt dank La Doce. Als Biker hatte Pepe zunächst vor allem Helme und Tanks mit seinen Kunstwerken verziert. Gelegentlich hatte er auch Ladenfassaden bemalt, wenngleich sein Vater seinen künstlerischen Ambitionen kritisch gegenübergestanden hatte. Doch eines Tages war La Doce auf Pepe zugekommen und hatte bei ihm ein Banner mit dem Boca-Trikot und einer Zwölf in einem Kreis in Auftrag gegeben.
Das Werk wurde unter großem Brimborium enthüllt, und Pepe konnte sich vor Anfragen anderer barras nicht mehr retten. Sie alle wollten ebenfalls ihre eigenen unverwechselbaren Fahnen und Banner. Oftmals brachten sie bereits Entwürfe mit, die Pepe anschließend überarbeitete. Er wusste, was funktionierte und was nicht. Laut eigener Auskunft malte er, was seine Auftraggeber wollten. Politische oder religiöse Tabus kannte er nicht. Das berühmte telon für Godoy Cruz beispielsweise enthielt eine Karte der Malvinas (Falklandinseln). Die Arbeit an einem Stück dauerte zwischen fünf und 15 Tagen, nicht selten unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen, falls gegnerische barras die Flagge als Machtdemonstration zu stehlen versuchen sollten. Gelegentlich beschützten ihn bei der Arbeit Dutzende