Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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nicht belegten Ursprungslegende. Beim Abschied sagte Ernesto: »Wenn wir das Wort hincha hören, ist das für uns jedes Mal etwas Besonderes.« Ihm war zu Ohren gekommen, dass sich in Argentinien sogar zwei Vereine darüber stritten, wer den Begriff hincha ursprünglich aus Uruguay importiert habe, Huracán oder Racing. »Das macht uns stolz.« Die Nachfahren von Prudencio Miguel Reyes hatten seinen Mythos zum Teil ihrer Familiengeschichte gemacht, so wie La Banda del Parque ihn zum Teil ihrer Geschichte gemacht hatte.

      Am folgenden Tag sollten Mikael und ich endlich La Banda del Parque treffen. Mikael erhielt eine Nachricht, dass ein Santino uns abholen werde. Er sei von kräftiger Statur, mit kurzgeschorenen Haaren und würde laut und schnell sprechen. Bis dahin war La Banda del Parque für uns nur eine Schimäre gewesen. Die Verhaftung ihres Anführers hatte ihnen zugesetzt, doch Mikael hatte ein wenig herumtelefoniert. Am Abend würde Nacional spielen, allerdings nicht Fußball, sondern Basketball, gegen Aguada in der brandneuen Antel Arena. Wie bei den europäischen Ultras spielte es keine Rolle, ob der eigene Verein im Fußball, Basketball, Wasserpolo oder Frauenvolleyball antrat: Die Farben waren dieselben, und ein Spiel war ein Spiel. Es würde eine entrada geben, also den traditionellen Umzug der barra zur Halle, auf dem sie zumeist unter Einsatz von Feuerwerkskörpern, Bengalos, Rauchbomben und Trommeln ihre Banner präsentierten. Am frühen Abend holte Santino uns mit dem Auto ab. Er trug einen blauen Nacional-Hoodie. Mit donnernder Stimme sagte er, dass er Anwalt sei. Er redete in einem Höllentempo und nahm die Kurven ein bisschen zu rasant. Die Reifen quietschten. Er war schon seit Langem bei La Banda del Parque aktiv, doch was genau er da machte, wurde nicht klar. »Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon«, sagte er. Er durfte sich auf dem Vereinsgelände und im Stadion frei bewegen, momentan konnte er allerdings bei Spielen seines Vereins nicht dabei sein, und zwar unabhängig von der Sportart. Durch seinen Beruf hatte er mehr als einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen können, doch als bei einer Leibesvisitation eine Pistole bei ihm gefunden und er verhaftet worden war, hatte auch er nichts machen können. Er brachte uns zu einem über und über mit Nacional-Graffiti bemalten Skatepark in der Nähe des Parque Central. Rund 50 Mitglieder der barra bereiteten sich auf die entrada vor. Fast ausschließlich junge Männer. All die Gesichter und Namen verwirrten mich. Irgendjemand drückte mir Haschischkugeln in die Hand, offenbar das einzige, was es umsonst und im Übermaß gab. Marihuana war 2013 in Uruguay legalisiert worden, außerdem war ein Höchstpreis festgelegt worden, wodurch quasi über Nacht der illegale Markt trockengelegt worden war.

      »Dies ist die barra, und etwas anderes gibt es nicht«, sagte Mateo, ein kräftig gebauter Mann mit einer Basecap mit der Aufschrift »Winner«. Er sei ein bekanntes Mitglied der Banda del Parque, erklärte er mir, und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.

      »Wieso warst du im Gefängnis?«, wollte ich wissen.

      »Ich habe auf zwei Peñarol-Fans geschossen«, erwiderte er und formte beide Hände zu Pistolen. Er holte sein Handy hervor und zeigte mir Fotos von sich in der Zelle. Auf den meisten hatte er die Finger lächelnd zum Victory-Zeichen gespreizt. Sein Freund Martin war ebenfalls gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er neun Jahre wegen bewaffneten Raubes gesessen hatte. Er hatte ein steifes Bein. Alle waren auf Crack oder Kokain. Einer aus der barra hielt mir mit starrem Blick aus tellergroßen Pupillen eine Plastiktüte mit einigen Papierstreifen hin. LSD. Vermutlich war das der denkbar schlechteste Ort der Welt, um LSD zu nehmen, daher lehnte ich höflich ab. »Holen wir jetzt die Pistolen?« fragte er. Santino versetzte ihm einen Wischer über den Kopf, als würde er einen Welpen maßregeln.

      Hunderte weitere Fans strömten herbei, indessen Mikael in seinem gebrochenen Spanisch, das er in Argentinien aufgeschnappt hatte, Geschichten aus der schwedischen Ultra-Szene zum Besten gab. Bengalos wurden ausgeteilt, dazu tranken und rauchten die Mitglieder der barra und stimmten Gesänge an, in denen sie Nacional und die hinchas feierten und ihrem Hass auf Peñarol freien Lauf ließen. Ohne jegliche Vorwarnung enterte die Gruppe die Straße. Der Verkehr brach zusammen, als zunächst einige Dutzend Fans zur entrada Aufstellung nahmen und schließlich mehrere Hundert die Straße entlang marschierten. Die Fahnen und Banner wurden entrollt, und die lärmende Prozession blockierte die Schnellstraße, sodass sich hinter uns die Autos stauten. Der Asphalt verschwand im Nebel der Rauchbomben und Bengalos. Alle paar Sekunden erschütterte eine gewaltige Explosion die Gegend. Santino lief am Rand vor und zurück und behielt alles im Blick. Seine Aufgabe bestand offenkundig darin, dafür zu sorgen, dass die Banda del Parque so richtig auf Touren kam, ohne dabei allerdings komplett auszurasten.

      Die Prozession traf an ihrem Ziel ein, der Antel Arena, einem brandneuen, modernistischen, hell erleuchteten Würfel. Die Gruppe trennte sich in zwei Hälften: Die eine machte sich auf zum Eingang, um ihre Plätze am Spielfeldrand einzunehmen und genauso viel Lärm wie bei einem Fußballspiel zu veranstalten. Die übrigen rund 50 Menschen verzogen sich in den Park oberhalb der Straße. Mateo sagte: »Wir nennen uns ›Die Schwarze Liste‹.« Sie alle hatten Hausverbot. Die Erben von Prudencio Miguel Reyes mussten sich damit begnügen, die Antel Arena in der Ferne strahlen zu sehen.

      2

       Argentinien

      BUENOS AIRES

      In den frühen Morgenstunden rissen Mikael und ich uns von Nacionals Banda del Parque los und brachen nach Argentinien auf. An einem schönen Tag bei günstigem Wind und ruhigem Wellengang schafft die Fähre es in gut zwei Stunden von Montevideo über den Río de la Plata nach Buenos Aires. Im Skatepark war die Feier immer weitergegangen, doch als irgendwann die Leuchtfeuer, das Kokain und das Geld ausgingen, wurde die Stimmung düsterer, auch wenn Mikael das nicht bemerkte. Ich zerrte ihn fort, bevor es zur unvermeidlichen Razzia kam, und wenige Stunden darauf nahmen wir die erste Fähre. Mikael erzählte mir aus seinem Leben, in dem sich alles um Fußball drehte. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte er Schwedens allererste Ultra-Gruppierung gegründet und in Stockholm einen Laden mit Fahnen, Schals und Shirts eröffnet, die er zehn Jahre lang auf seinen Reisen zusammengetragen hatte. »Ein Freund von mir hatte einen Eishockeyladen«, erzählte er. »Dort habe ich einen Fiorentina/ Inter-Schal ins Schaufenster gelegt, weil ich die Roma mag, und er war noch am selben Tag weg.« Irgendwann hatte er auch Videos und DVDs von Fanschlägereien in England, Deutschland, den Niederlanden, Griechenland, Brasilien und Argentinien ins Programm genommen und schließlich den Laden ganz übernommen. Eine Zeitlang war das Geschäft gut gelaufen, doch nach einigen Jahren war die Miete erhöht worden, und das war das Aus gewesen. Er hatte die unerwartete freie Zeit genutzt und war nach Argentinien geflogen, für ihn das Herz und die Seele der globalen Fankultur und der beste Ort der Welt, um live ein Fußballspiel zu erleben. Doch im Grunde hatte er nur eine Mannschaft unbedingt sehen wollen.

      Die Boca Juniors, Argentiniens erfolgreichster Klub, wurden 1905 in dem Stadtteil La Boca von italienischen Einwanderern gegründet. Die meisten von ihnen kamen aus der nordwestitalienischen Hafenstadt Genua. Von den heutigen Argentiniern haben mehr als 60 Prozent in irgendeiner Form italienische Vorfahren. Wegen der starken italienischen Wurzeln des Vereins lautet Boca Juniors’ Spitzname Los Xeneizes, was im genuesischen Dialekt so viel wie »Bewohner Genuas« bedeutet. Beiderseits des Atlantiks entwickelten sich unabhängig voneinander zwei erstaunlich ähnliche Fankulturen: in Italien die Ultras und, zeitlich schon vorher, in Argentinien die barras bravas, was übersetzt so viel wie »wilde Horden« bedeutet. Als rauflustige, locker organisierte Fangruppen gab es sie bereits seit den 1920er-Jahren. Der Name von Bocas barra – La Doce (Die Zwölf) – geht auf das Jahr 1925 zurück, als Victoriano Caffarena, ein wohlhabender Bewohner des Viertels, Bocas erste Europatournee finanzierte. Auf der 22-tägigen Schiffsreise über den Atlantik machte er sich unentbehrlich. Er leitete das Training, massierte die Spieler und kümmerte sich um alles. Die Tournee wurde zum überwältigenden Erfolg, und am Ende der langen Reise war Caffarena im Grunde zu einem der Spieler geworden. Daher wurde ihm der Spitzname »der zwölfte Mann« verliehen, den er bis an sein Lebensende 1972 beibehielt23 – auch wenn zu jener Zeit der Name La Doce schon eine

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