Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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kannte Juan Rafa und Mauro seit Jahren. Mit acht Jahren hatte er seinen Vater erstmals in die Bombonera begleitet. Schon beim Betreten des Stadions hatte ihn das Geschehen in der Nordkurve hinter dem Tor – der sogenannten popular – in den Bann gezogen. Das Revier der barra. Sein Vater hatte ihm verboten, dorthin zu gehen. Es sei zu gefährlich. Doch Juan hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte sich daheim fortgeschlichen, war heimlich zu den Spielen gegangen und hatte sich der barra angeschlossen. Zu jener Zeit war ein Mann namens Enrique »Quique« Ocampo der Boss von La Doce. Seinen Spitznamen »El Carnicero« (»der Schlachter«) hatte er nicht etwa der Tatsache zu verdanken gehabt, dass er besonders gut Menschen hatte aufschlitzen können. Vielmehr war er tatsächlich Schlachter gewesen. Sein Laden hatte um die Ecke von La Bombonera gelegen. Der Verein hatte ihm Eintrittskarten überlassen, die er weiterverkauft hatte, um die trapos der Truppe zu finanzieren und sich selbst einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. In dieser Zeit hatte Juan Rafael di Zeo – Rafa – kennengelernt, der schließlich selbst zum Boss von La Doce aufsteigen sollte.

      Ocampo blieb mehr oder weniger die gesamten 1970er-Jahre hindurch an der Spitze von La Doce. Zu jener Zeit ging es vor allem darum, das eigene Team zu unterstützen und, natürlich, die gegnerischen Fahnen zu stehlen. Juan sagte: »Ohne La Doce wäre ich nicht zum Boca-Fan geworden. Die Gemeinschaft von Freunden war das Entscheidende. Es war so etwas wie Brauchtum, den Gegnern die Fahnen oder T-Shirts abzunehmen. Damit begann es. Und dann kam immer mehr Gewalt ins Spiel, Ketten, Steine. Die Sache artete aus.« Wieso, das vermochte Juan nicht zu sagen. Möglicherweise wegen der Drogen. Oder weil immer mehr Geld im Spiel war und die Einsätze stiegen. Vielleicht war die Gewalt auch ein Kollateralschaden des Lebens unter einer in den letzten Zügen liegenden Diktatur. Die Regentschaft des Schlachters endete nach der Partie der Boca Juniors gegen Rosario Central 1981. Rosario gewann mit 1:0. Juan konnte sich noch erinnern, dass Maradona einen Elfmeter verschoss. Vor dem Spiel hatte der Schlachter dem krawallbereiten Teil von La Doce erzählt, dass er keine Karten mehr für das Spiel habe. Sie fuhren dennoch nach Rosario und wurden geschlossen verhaftet. Zu jener Zeit tobte der Machtkampf bereits zwei Jahre, doch diese Kränkung durch den Schlachter brachte das Fass zum Überlaufen.

      »Wir haben sein Haus in La Boca angezündet«, berichtete Juan. »Daraufhin sagte er: ›Mit so etwas will ich nichts zu tun haben.‹« Der Schlachter zog sich zurück, und eine neue Generation übernahm das Ruder.

      Juan holte ein Foto von der Wand. Die Farbaufnahme zeigte eine sehr viel jüngere Version von ihm, den Arm um die Schultern von José Barrita gelegt. Wegen seiner grauen Haare war Barrita gemeinhin nur »El Abuelo« genannt worden, der Großvater. Er war dem Schlachter auf dem Posten des barracapo gefolgt und so etwas wie ein Bohémien gewesen. »In gewisser Hinsicht war José ein Hippie. Er machte sich nichts aus Geld«, sagte Juan. Dem Großvater ging aller Protz ab, und er schien nie Geld in der Tasche zu haben. Er fuhr einen alten verbeulten Ford Falcon Ranchero und lebte für die barra. Ihn reizten das Leben als Außenseiter und das Adrenalin bei Auseinandersetzungen. In seiner Zeit wurden die Weichen für die weitere Entwicklung von La Doce gestellt. Die barra forderte mehr Geld vom Verein. Die Spieler mussten einen Teil ihres Gehalts abführen, damit die barra weiterhin ihre Namen rief. Eine Stiftung wurde gegründet, durch die La Doce ihre Einnahmen laufen lassen konnte. Der Klub wiederum begann, La Doce als seine Augen und Ohren zu nutzen, insbesondere, um seine Stars vor heiklen Situationen zu schützen. Ein berühmtes Beispiel war laut Juan die Ankunft von Maradona und Claudio Caniggia 1995. Beide wollten nach längeren Dopingsperren ihre Karriere wiederbeleben. Maradonas Kokainkonsum hatte ihm bereits bei Napoli eine 15-monatige Sperre eingetragen, bevor er bei der WM 1994 erneut durch einen Dopingtest fiel, diesmal wegen Ephedrin.33 Caniggia genoss einen Ruf als Partylöwe und hatte bei der Roma eine 13-monatige Sperre wegen Kokainmissbrauchs abgesessen.34 Die beiden waren die ersten Neuverpflichtungen unter Macri, der mit seinem Image als zaghafter Playboy kämpfte. Mit den beiden wollte er die Boca-Anhänger für sich gewinnen und für rasche Erfolge sorgen. Doch laut Juan schlugen die beiden Spieler sich die Nächte um die Ohren und fielen anschließend bei vereinsinternen Drogentests durch. Also bat Boca die barra, die beiden zu zähmen. Juan sagte: »Wenn einer von uns Caniggia oder Maradona auf ihrer nächtlichen Tour traf, sollte er sie aufhalten und warnen. Man würde sie schlagen!«

      Die 1980er- und 1990er-Jahre waren eine Ära der Gewalt. Juan wurde zweimal angeschossen und viermal niedergestochen. Er holte ein Röntgenbild von der Wand. Es war gemacht worden, nachdem die Kugel eines River-Plate-Fans seine Hüfte zertrümmert hatte und ihm eine künstliche hatte eingesetzt werden müssen. Rafa und sein Bruder Fernando drängten den Großvater hinter den Kulissen angesichts der erwirtschafteten Profite zu einer Professionalisierung. Die beiden wurden immer mächtiger, und das Ende der Amtszeit des Großvaters rückte näher. Als 1994 beim superclásico zwei Anhänger von River Plate erschossen wurden, kam es zu unzähligen Gerichtsverfahren. Dem Großvater konnte nicht nachgewiesen werden, dass er vor Ort gewesen war, doch wegen einer Reihe anderer Anklagepunkte wie etwa Erpressung wurde er schließlich zu neun Jahren Haft verurteilt. Als Rafa den Großvater im Gefängnis besuchte, explodierte der Streit.

      »Der Großvater hielt Rafa vor, dass er nur an die Spitze wolle, also dorthin, wo er nun ist«, erklärte Juan. José Barrita starb 2001 an einer Lungenentzündung, 20 Tage nach seiner Entlassung. Rafas La Doce unterschied sich grundlegend von Barritas La Doce. Juan sagte: »Rafa ging es ums Geschäft. Er sah, dass sich mit den barras und der Politik und all dem Geld machen ließ. Macri, unser heutiger Präsident, war zu der Zeit noch Chef von Boca, also haben Rafa und ich ihn aufgesucht und ihn beraten, wie er seine Macht festigen könne und den Klub führen sollte.«

      Er erwähnte das so beiläufig, als schildere er ein Treffen in einem Golfklub. Zugleich offenbarte er damit das Geflecht aus Macht, Geld und Einfluss, das zwischen den barras, den Vereinen und der politischen Elite Argentiniens bestand. Mauricio Macri wurde 1995 zum Präsidenten der Boca Juniors gewählt, doch wie Juan unmissverständlich klarmachte, hatte er sich dafür zunächst La Doces Wohlwollen sichern müssen. Ihm zufolge waren die Zahlungen der Politiker die größte Einnahmequelle von La Doce. Im Gegenzug erwarteten die Politiker eine Menge von ihrem, in Juans Worten, »angeheuerten Personal«: Es sollte an Kundgebungen teilnehmen, Protestveranstaltungen auflösen, für bestellte Krawalle sorgen und sie schützen. Wenn der Preis stimmte, ließ sich alles arrangieren. Juan schilderte, wie im Jahr 2003 mehrere Mitglieder der Gruppierung eine Solidaritätsdemonstration für die Arbeiterinnen der Brukman-Fabrik zerschlagen hatten. Fünfzig Frauen hatten die Textilfabrik besetzt und dafür international viel Beifall erhalten.35 Die Aktion hatte nicht mehr als 20.000 Dollar und 20 Pizzen gekostet – und einen Bus, der groß genug war, um alle hin und wieder zurück zu bringen. Juan hielt es sogar für möglich, dass der Zeitpunkt der Aktion den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2003 beeinflusst haben könnte. Das nächste Mal würde La Doce sehr viel mehr verlangen.

      Und es gab immer ein nächstes Mal. In Juans Augen war Macri nicht anders als jeder andere argentinische Politiker. Selbstverständlich stritt er ab, La Doce jemals unterstützt zu haben. Die Folge »Foreign Fields« der BBC-Reihe Hooligans von 2002 über die Krawallmacher des Fußballs in Großbritannien und anderswo widmete sich ausgiebig La Doce und den argentinischen barras im Vorfeld eines superclásico. Neben Rafa kam auch der noch jüngere, dennoch bereits ergrauende Macri – noch mit Menjou-Bärtchen – zu Wort und erklärte: »Über die Beziehung zwischen Vereinspräsidenten und Hooligans wurde immer schon viel spekuliert. Und es gab Klubpräsidenten, aber auch Politiker, die Hooligans für ihre Zwecke eingespannt haben. Doch es ist ein Teil unserer neuen Politik, jeglichen Kontakt zu diesen Menschen, deren Macht auf Gewalt gründet, abzubrechen.« Er bestritt, La Doce jemals direkt finanziell unterstützt zu haben oder ihnen wissentlich Eintrittskarten überlassen zu haben, die dann mit beträchtlichem Gewinn weiterverkauft wurden. »Vielleicht sollte ich noch einmal auf Englisch wiederholen, was ich schon unzählige Male gesagt habe: Wir geben den Hooligans keine Tickets.«

      In Argentinien nahm ihm das niemand ab. Macri ist der Sohn eines der reichsten Geschäftsleute des Landes. Er lebt in einer geschlossenen Wohnanlage und war laut Juan jämmerlich

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