Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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Statur, die dunklen Haare kurzgeschoren. Auf seinem weitgeschnittenen Shirt prangte ein großer Button mit der Aufschrift »Lula Livre!« – »Freiheit für Lula!« – eine Solidaritätsbekundung für den linksgerichteten brasilianischen Ex-Präsidenten Lula da Silva, der nach seinem Amtsantritt kurz nach der Jahrtausendwende Brasilien umgekrempelt und Millionen Menschen aus der Armut geholt hatte. Doch inzwischen saß er wegen Korruption im Gefängnis, auch wenn seine – nach wie vor zahlreichen – Unterstützer (Cláudio inbegriffen) seine Inhaftierung für einen Skandal hielten. Mit gefälschten Beweisen habe verhindert werden sollen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen gegen Jair Bolsonaro antreten würde, den rechten Ex-Offizier, der die von 1964 bis 1985 herrschende Militärjunta entschieden verteidigte und die Diktatur als »ruhmreiche Ära« bezeichnete.44 Bolsonaro hasst augenscheinlich alle und jeden: Frauen, Homosexuelle, Indios und sogar den Amazonas. Da Lula im Gefängnis saß, entschied Bolsonaro die Präsidentschaftswahl 2018 für sich und regierte seither. Cláudio war nicht entgangen, dass ich seinen Button bemerkt hatte. Als er Raça Rubro-Negro 1977 gegründet habe, so sagte er, hätten sie in einer »Zeit der Diktatur« gelebt. Auf Deutsch bedeutet raça in etwa »unbedingtes Verlangen« oder »starker Wille« kann aber auch mit »Bande« übersetzt werden. Rubro-negro (Rot und Schwarz) wiederum steht für die Farben von Flamengos Trikot. Die torcida war im Stadion an ihren roten Shirts zu erkennen, die allerdings nicht mit den Vereinsfarben zusammenhingen. »Raça trug als erste torcida nicht das Trikot des Klubs. Unser Shirt war rot für die Liebe zu Flamengo und den mühseligen Kampf für die linke Sache«, erklärte Cláudio.

      Der Fußball wurde bekanntlich 1894 von dem Schotten Charles Miller in Brasilien eingeführt, war dort allerdings zunächst ausschließlich der Oberschicht vorbehalten, sodass die riesige afrikanischstämmige und indigene Bevölkerung außen vor bleiben musste. Brasilien hatte erst wenige Jahre zuvor, 1888, als letztes Industrieland weltweit die Sklaverei abgeschafft. Es wird geschätzt, dass bis dahin in knapp 400 Jahren rund fünf Millionen Sklaven nach Brasilien verschleppt worden waren. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl lediglich acht Prozent davon.45 Flamengo war ursprünglich als reiner Ruderklub gegründet worden und hatte erst eine Fußballabteilung eröffnet, als verärgerte Mitglieder des großen Rivalen Fluminese ihrem Verein den Rücken kehrten. Flamengo gelang es als erstem Klub, eine landesweite Fanbasis aufzubauen, nicht allein wegen seiner Erfolge in der damaligen Hauptstadt Rio, sondern insbesondere auch dank der Fortschritte in der Radiotechnik, die es ermöglichten, Partien in ganz Brasilien auszustrahlen. Cláudio wird wie jeder andere Flamengo-Fan nicht müde zu erzählen, dass der Verein zwischen 30 und 40 Millionen Anhänger habe. Mehr, als die meisten Länder Einwohner haben, wie er stolz hinzufügte. Auch Cláudio war durch das Radio infiziert worden. Mit fünf Jahren hatte er 1963 vor dem Empfänger verfolgt, wie Flamengo Meister wurde. »Mir kamen die Tränen, dabei wusste ich noch nicht einmal, was Meister eigentlich heißt. Der Reporter brüllte ›MEISTER!‹, und ich bekam Gänsehaut.« Seiner Ansicht nach lag seiner Begeisterung noch etwas anderes, Tiefgehendes zugrunde, möglicherweise ausgelöst durch die Farben Rot und Schwarz. »Das sind die beiden wirkmächtigsten Farben, die es gibt!«, sagte er. »Die Fahne der Sandinista war schwarz und rot. Hitlers Hakenkreuzfahne war schwarz und rot. Wo auch immer Rot und Schwarz sind, ist der Fanatismus nicht weit.«

      Er gründete Raça als Teenager gemeinsam mit seinem Bruder, und am Beginn ihrer torcida stand eine Mischung aus besessenem Fantum und Aktivismus. Wenn sie ihre Graffiti kritzelten und Poster klebten, mussten sie immer wieder »vor den Soldaten mit ihren Maschinenpistolen fliehen«. Stand an einem Sonntag ein Spiel an, brachten sie am Freitagabend mit einem Transporter Tausende Rollen Toilettenpapier zum Maracanã. Sie sprangen vom Transporter über den Zaun und versteckten das Toilettenpapier – das sie beim Spiel auf den Rasen werfen würden – sowie ihre Feuerwerkskörper und Banner zwischen den Dachsparren der Tribüne. Das Problem war, dass vier der großen Mannschaften aus Rio sich das Maracanã teilten und sie nicht riskieren durften, dass eine gegnerische torcida ihre Vorräte fand. »Wenn die Wachleute uns entdeckten, feuerten sie auf uns«, berichtete er. Mit dem mitgebrachten Wasser und Brot hielten sie sich die kommenden zwei Tage verborgen. »Wir blieben dort, ohne scheißen gehen zu können«, berichtete er. Bis am Sonntag die Tore geöffnet wurden und sie sich »mit Bauchschmerzen« rauswagten.

      Gewalt spielte seinerzeit bei den torcidas noch keine maßgebliche Rolle. »Das war noch ein anderes Rio, verstehst du? Wir mussten vor den Cops abhauen, die die Stadien bewachten. Nicht vor der Gewalt auf den Straßen, so etwas gab es nicht. Und die Prügeleien unter den torcidas, da kämpften wir mit den Fäusten. Allerhöchstens mit den Trommelstöcken unserer Basstrommeln.« Als Raça sich etabliert hatte, sorgte Cláudio für einen Vervielfältigungsapparat im Stadion. »Wir hatten ein … Wie heißt das noch? Ein soziales Netzwerk!« Cláudio bezeichnete es als »ein prähistorisches WhatsApp. Das war unser Instagram.« Noch während das Spiel lief, arbeitete ein Raça-Team bereits an einem Fanzine zu der Partie. In Handarbeit hauten sie die Seiten mit ihren Gedanken zum Spiel und zu anderen Themen wie etwa den hohen Eintrittspreisen heraus und verteilten die Hefte im Stadion.

      Für Cláudio bedeutete Fan von Flamengo sein mehr als nur Liebe. Doente ist das passende Wort dafür. Etwas, das einen überkommt und über das man im Grunde keine Kontrolle hat. Doch bei Raça ging es um mehr, nämlich darum, den Autoritäten die Stirn zu bieten und den Menschen zu zeigen, dass man Widerstand leisten konnte, indem man die Dinge selbst in die Hand nahm. Cláudio blieb zehn Jahre dabei, dann beschlich ihn das Gefühl, zu alt zu sein und keinen Draht mehr zu den Jüngeren zu finden, etwas, das auf sämtlichen Tribünen der Welt passiert. Eine neue Generation löst die alte ab.

      Die Band war da, und Cláudio musste zum Soundcheck. »Raça war nicht einfach nur eine torcida organizada«, sagte er. »Sie veränderte die Menschen und ihr Verhalten. Sie begannen, die Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen, und entwickelten einen politischen Blick auf ihre Umgebung.«

      Die Gründung von La Doce und der anderen barras bravas war ein Ausfluss der argentinischen Leidenschaft für das Spiel, der Ursprung der brasilianischen torcidas dagegen war eher künstlerischer Natur. Der Begriff torcida ist von dem portugiesischen torcer – verdrehen oder wringen – abgeleitet. Immer wieder wurde mir erzählt, dass das auf die vornehmlich weiblichen Fans zurückginge, die in den Anfangstagen des brasilianischen Fußballs bei Spielen ihre Schals oder Blusen nervös in den Händen verdrehten oder verwrangen. Andere behaupteten, der Begriff leite sich von den Fans her, die ihre verdrehten T-Shirts über den Köpfen rotieren ließen. Doch organisierte Gruppen tauchten erst Ende der 1930er-, zu Beginn der 1940er-Jahre auf. Und wie kein anderer war Jayme de Carvalho daran beteiligt. Carvalho war 1927 als 16-Jähriger mit dem Schiff aus dem Bundesstaat Bahia im Nordosten des Landes auf der Suche nach Arbeit nach Rio gekommen. Zunächst verkaufte er in einem Bus Süßigkeiten, anschließend arbeitete er in einem Kleidungsgeschäft, bis er schließlich im Justizministerium eine Stelle als einfacher Beamter fand. Er entdeckte Flamengo für sich und begann so etwas wie ein Doppelleben zu führen. Unter der Woche war er ein unauffälliger staatlicher funcionario, doch am Wochenende war er doente por Flamengo. 1942 gründete er die Karnevalskapelle Charanga, die das gesamte Spiel über für ein Spektakel sorgte, wie er es von den Straßenbands seiner Kindheit im heimischen Bahia kannte. Als die Kapelle das erste Mal aufmarschierte, beschwerte sich der gegnerische Torwart beim Schiedsrichter und der ließ die Spieler den Platz verlassen.46

      Ihren Namen verdankte die Gruppe dem berühmten und äußerst produktiven brasilianischen Komponisten und Textautor Ary Barroso, der als Filmkomponist 1945 für einen Oscar nominiert wurde. Seine berühmteste Komposition ist »Aquarela do Brasil«, international einer der bekanntesten Songs aus der Feder eines Brasilianers. Auch Barroso war doente por Flamengo und betätigte sich nebenbei als Fußballkommentator für Radio Tupi, wobei er gelegentlich auch zu Triller- und anderen Pfeifen griff. Als er bei einem Flamengo-Spiel das unbeholfene Spiel der Kapelle vernahm, bemerkte er spöttisch: »Freunde, das ist keine Musikband. Das ist eine charanga47 Der Begriff charanga bezeichnet in Brasilien eine schief spielende Amateurband. Doch Jayme gefiel der Name, die Charanga

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