Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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einem privaten Wohnviertel, in einer anderen Welt. Wir brachten ihm das kleine Einmaleins bei, etwa, dass er seine Bodyguards zuhause lassen sollte. Wir sagten ihm, er solle sich in der popular sehen lassen, nicht in den platea [Logen]. Wir halfen ihm bei seinem Wahlkampf. Er gewann … und wurde zum Hardliner.«

      Rafa stand im Zentrum von allem. »Rafa war schon immer verrückt danach, Geld zu verdienen. Er hatte ein gutes Auge für die zukünftigen Entwicklungen und sah, wo überall Geld zu machen war.« Wie viel Geld La Doce tatsächlich umsetzt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Laut einem Bericht der Zeitung La Nación von 2013 betrugen allein die Einnahmen der trapitos, die die Parkplätze rund um La Bombonera kontrollieren, 300.000 Pesos pro Spieltag.36 (2013 entsprachen 300.000 Pesos noch knapp 60.000 Dollar, doch inzwischen, nach dem Kollaps der argentinischen Währung, nur noch gut 5.000 Dollar.) Der Journalist Gustavo Grabia schätzte, dass die Organisation jeden Monat rund 400.000 Dollar umsetzte.

      Juan geht allerdings von einer sehr viel höheren Summe aus. Die Einnahmen aus Tickets, Parkplätzen, Imbissständen und Merchandisingartikeln würden nur den geringsten Teil ausmachen. »Der [Rest] kommt von Politikern und Gewerkschaften, die ›Personal‹ für Demonstrationen oder den Kampf gegen die Polizei anheuern. Und nicht zuletzt von den Narcos.« Ihm zufolge streicht La Doce monatlich im Durchschnitt mindestens drei Millionen Dollar ein, bei gut laufenden Geschäften aber auch oft mehr. »Und das ist noch nichts. Normalerweise sind es immer mehr als drei Millionen im Monat. Nur bei dieser barra. Nur bei Boca. Manchmal sind es sechs, manchmal zehn. Sie können verlangen, was sie wollen. Und kriegen es.«

      Um die Jahrtausendwende florierte La Doce und hatte laut Rafa 2.000 Mitglieder. Er zählte die besten argentinischen Spieler zu seinen Freunden, auch Maradona, mit dem er immer wieder fotografiert wurde. Alles geschah in aller Öffentlichkeit. La Doce veranstaltete »Adrenalintouren« für ausländische Touristen – in Gruppen von 40 Teilnehmern –, die es sich einiges kosten ließen, auf der popular von La Bombonera inmitten der Gruppe ein Spiel zu verfolgen.37 La Doces Geschäftsmodell war derart erfolgreich, dass die Gruppe sogar eine Art »Ultra-Universität« für Fans aus aller Welt gründete. Für 5.000 Dollar lernten andere Gruppierungen, ein Business wie La Doces aufzuziehen: vom Ticket-Schwarzhandel über das Verfassen von Tribünengesängen bis zum Herstellen eigener Banner. Am Ende erhielt jeder Teilnehmer eine CD mit Gesängen aus La Bombonera, die anschließend vervielfältigt wurden und in ganz Europa kursierten. In einer Dokumentation des argentinischen Fernsehsenders Canal 9 erklärte Rafa 2006: »La Doce ist wie Harvard, eine Universität, auf der man lernt, wie man eine barra wird.«38 Doch schließlich kamen die Gesetzeshüter auch Rafa bei. 2007 wanderte er wegen der mutmaßlichen Beteiligung an Krawallen ins Gefängnis. Mauro übernahm Teile des Geschäfts, und bei einem Besuch bei Rafa im Gefängnis brach zwischen den beiden offener Streit aus.

      Als Rafa 2009 entlassen wurde, hatte der Konflikt die Anhängerschaft gespalten. Bei Spielen verteilten sich die beiden Lager häufig auf gegenüberliegende Seiten der Tribüne und überzogen sich gegenseitig mit Schmährufen. Ein Stellvertreterkrieg brach aus, in dem die Unterstützer der beiden für ihren jeweiligen Anführer kämpften und starben. Juan zufolge wurde sogar Mauros Mutter zum Ziel eines Angriffs. Neun Monate darauf wurde Mauros Truppe auf dem Weg nach Rosario in einen Hinterhalt gelockt und ihm selbst in den Magen geschossen. Er überlebte, und so war es letztlich einem Pekinesen vorbehalten, Rafa wieder zum unumstrittenen Boss von La Doce zu machen. Das Hündchen gehörte Ernesto Cirino, und der ließ es vor die Tür seines Nachbarn pinkeln. Leider war dieser der Schwager von Mauros Stellvertreter Maximiliano Mazzaro, den er sogleich anrief. Cirino wurde totgeprügelt, und Mazzaro und Mauro wurden festgenommen.39 Obwohl sie später freigesprochen wurden, kehrte Rafa an die Spitze zurück und die beiden Männer begruben das Kriegsbeil.

      Der brüchige Waffenstillstand hatte in der Folge trotz des harten staatlichen Vorgehens gegen die barras gehalten. Im Jahr 2015 war Mauricio Macri zum argentinischen Präsidenten gewählt worden. Er hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Macht der barras durch eine nach dem Vorbild des FBI neugeschaffene Eliteeinheit gegen Fußballgewalt zu durchbrechen. Rafa war mehr oder weniger aus La Bombonera verbannt worden. Juan holte aus seinem Aktenschrank einen dicken Ordner mit Zeitungsausschnitten und Titelblättern von Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte: Berichte über La Doce, den Großvater und »den Krieg« (zwischen Mauro und Rafa). Das Interessanteste an seiner Sammlung war die Berichterstattung über Rafa. Viele Hochglanzmagazine hievten ihn aufs Cover. Die erste Ausgabe des argentinischen Playboys brachte ein Interview mit ihm: »Unter Männern mit dem Kopf von Bocas Barra«. Auf einem anderen Cover trug Rafa Boxhandschuhe und machte Schattenboxen mit der Kamera. Die Titelzeile lautete: »Botschafter der Angst.« Er wurde wie ein Rockstar behandelt. Juan sagte dazu: »Rafa ist einerseits ausgesprochen beliebt, eine Berühmtheit. Andererseits sehen manche Leute in ihm so etwas wie einen Terroristen. Ihm öffnen sich also viele Türen, aber genauso viele schließen sich auch.« Ich hatte gehofft, ihn nach Bocas anstehendem Spiel zu treffen, doch nach der Episode mit Mauro erschien das kaum wahrscheinlich.

      Der Einfluss der barras ist augenscheinlich ein unlösbares Problem. Sie verdienen zu viel Geld und kennen zu viele schmutzige Geheimnisse der Machtelite, wenn nicht sogar der obersten politischen Führungsschicht des Landes. Darüber hinaus werden sie als Volkshelden verehrt, und La Doce ist als ständige und verführerische Macht in La Bombonera allgegenwärtig. Spieler kommen und gehen. Vereinspräsidenten machen Versprechen, brechen sie und verschwinden wieder. Und La Doce? Die Gruppe und ihre Gesänge bleiben. Anscheinend könnten höchstens die barras selbst die barras zu Fall bringen. Juan sagte: »Wir fragen uns selbst die ganze Zeit, was in Zukunft sein wird. Denn auch wenn im Moment alles okay ist, kann schon morgen oder übermorgen alles in Chaos und Schießereien enden.« Er war überzeugt, dass »der Krieg« erneut ausbrechen würde. »Die Lage droht hochzugehen wie eine Granate.«

      Das Gruppenspiel gegen Athletico Paranaense aus Brasilien in der Copa Libertadores stand kurz vor dem Anpfiff, und La Bombonera schimmerte blau und goldfarben im Flutlicht. Das Stadion war ausverkauft, wie bei jedem Spiel. 50.000 Zuschauer wurden erwartet. Die Polizei hatte sämtliche Zufahrtswege zum Stadion engmaschig kontrolliert, Straßen abgeriegelt und den Verkehr umgeleitet. Doch im Moment sah es so aus, als würde ich das Spiel verpassen. Ein Ticket für ein Boca-Spiel zu ergattern war kompliziert. La Doce kontrollierte das Geschäft, insbesondere dessen lukrativsten Teil: die ausländischen Touristen. Für ein Ticket oder die »Leihgebühr« für eine offizielle Dauerkarte wurden schon mal mehr als 400 Dollar fällig. Eigentlich hatte Mikael über seine La-Doce-Kontakte Karten für uns beide besorgen sollen, doch nach der Geschichte mit Mauro hatten wir bislang nur eine. Und so sehr Mikael mir auch behilflich sein wollte: Genau für diesen Moment war er hierhergekommen. Unter keinen Umständen wollte er ihn verpassen, und ich würde ihm gewiss nicht im Weg stehen. Er stapfte zur Eingangsschleuse und versprach, mich nach dem Spiel zu treffen.

      Einen Pfeil hatte ich noch im Köcher: meinen Presseausweis. Ich zeigte ihn am Ticketschalter vor. Der Mann lachte, ließ den Rollladen herunter, verriegelte ihn und schlenderte kichernd davon. Ich machte mich zu einem anderen Tor auf und flehte die Sicherheitsleute inbrünstig an. Schließlich öffnete ein zermürbter Wachmann das Tor, um mich loszuwerden.

      Das Estadio Alberto J. Armando verdankt seinen Spitznamen seiner ungewöhnlichen Form. Der in Slowenien geborene Architekt Viktor Sulčič ließ sich bei seinem Entwurf Mitte der 1930er-Jahre von einer Bombonera, einer Pralinenschachtel, inspirieren. Daraus resultierte eine kompakte, steil ansteigende Form, die auf jedem Platz das Gefühl vermittelt, in den oberen Rängen eines Opernhauses zu sitzen. Angesichts der Top-Lage mitten im dicht besiedelten Stadtteil La Boca stand es nicht zur Debatte, dass das Stadion jemals seinen angestammten Platz verlassen würde, im Gegensatz zu River Plate, das 1926 mit seinem Stadion in das vornehme barrio Núñez gezogen war. Stattdessen machte man das Beste aus den Gegebenheiten, errichtete das Stadion, baute es um und passte es den Erfordernissen an. Angesichts des beschränkten Platzes baute man eben in die Höhe. Es entstand eine beeindruckende Hufeisenform mit jeweils drei Rängen, die an drei Seiten

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