Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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und hierarchischer. Den Vereinen ging auf, dass sie auf dem Rasen von ihren leidenschaftlichen Unterstützern profitierten, also unterstützten sie die Fans mit Tickets, bei den Reisen und bei den Materialien der trapos (wörtlich übersetzt »Lumpen«, in Argentinien werden damit jedoch die Banner in den Fußballstadien bezeichnet). Laut dem Journalisten Gustavo Grabia, der sich in unzähligen Texten mit Argentiniens barras beschäftigt hat, stattete in den 1960er-Jahren der damalige Boca-Präsident Alberto J. Armando als Erster die barra La Doce mit ausreichenden Mitteln aus, damit sie vor dem Stadion und auf den Tribünen für eine den Gegner einschüchternde Atmosphäre sorgte. Mit Erfolg, glaubt man der Boca-Legende Antonio Rattín, berühmt geworden durch die Rote Karte, die er als argentinischer Kapitän bei der WM 1966 gegen England sah: »Ich weiß noch, wie unsere Gegner in der Bombonera ganz bleich wurden, wenn das ganze Stadion zu singen begann.«24

      Der auf die Tribünen niedergehende Geldregen hatte jedoch unvorhergesehene Folgen. Zwar gewann die barra schlagartig an Popularität, doch auch die Gewalt breitete sich aus und wurde mit jedem Jahrzehnt schlimmer. Mikael hatte seine Erfahrungen mit der modernen barra gemacht. Sein erstes Boca-Spiel war 2008 eine Auswärtspartie gegen den Club Atlético Huracán im Estadio Diego Armando Maradona, eigentlich die Heimat der Argentinos Juniors. Dorthin war die Partie wegen einer Stadionsperre nach Zuschauerausschreitungen verlegt worden. Allerdings schaffte die Maßnahme das zugrundeliegende Problem keineswegs aus der Welt. Kurz zuvor war der Streit der beiden La-Doce-Anführer eskaliert, ein Ereignis, das als »der Krieg« bekannt wurde. Bei dem Spiel kam es zu Randalen, und Mikael landete im Gefängnis. Irgendein unbedeutendes Vergehen hatte einen Polizeieinsatz mit Gummigeschossen und Tränengas ausgelöst. Mikael war an dem Abend einer von 184 Verhafteten und wurde zu einer Polizeiwache transportiert. Niemand dort konnte Englisch, und Mikael sprach zu der Zeit auch noch kein Spanisch. Doch alle waren freundlich, insbesondere die Polizisten. Trotz Verhaftung wurde Cola und Pizza für alle bestellt. Um ein Uhr nachts wurde Mikael schließlich nach sechs Stunden in der Zelle freigelassen. Doch am darauffolgenden Morgen tauchte sein markantes Gesicht in allen Zeitungen auf. Die Ausschnitte hat er aufbewahrt. Das Boulevardblatt Crónica brachte das ganzseitige Foto eines demolierten Polizeibusses, an dem ein noch jüngerer Mikael – ohne Bart und mit ein paar Pfund weniger – schüchtern vorbeischleicht. Das Tattoo an seinem Hals ist deutlich zu erkennen. Die Überschrift lautete: »Ein neues Kapitel des ›internen‹ Krieges.«

      Der Vorfall hatte für Mikael eine gute und eine schlechte Seite. Einerseits war er dadurch für die breite Öffentlichkeit zum Gesicht des zivilen Ungehorsams der argentinischen barras bravas geworden, insbesondere der barra bei den Boca Juniors, zum fleischgewordenen Symbol einer gewalttätigen, außer Kontrolle geratenen Fußballkultur. Andererseits kannte ihn nun jeder aus dem Umkreis von La Doce. »Die Leute sprachen mich auf der Straße an: ›Du bist doch dieser Schwede? Wir kennen dich!‹«, erzählte Mikael. Seit jener Zeit schmückt ein Boca-Juniors-Tattoo seine Brust.

      Mikaels unverhofftem schlechtem Ruf haftete etwas Ironisches an, denn er hasst Gewalt, allerdings hielt er sich anscheinend ständig zu nah am Geschehen auf. Auch sein nächstes Spiel in Buenos Aires, eine Drittligapartie in einem nördlichen Außenbezirk, endete mit Auseinandersetzungen und Gummigeschossen der Polizei. Dabei war er nur dorthin gefahren, um ein Foto der Pyroshow zu schießen. Um seine Haut zu retten, verbarg Mikael sich hinter einem alten Mann, der von der Tribüne humpelte.

      »Wie hinter einem menschlichen Schutzschild?«, fragte ich ihn.

      »Nein!«, erwiderte er, offenkundig peinlich berührt, wie das klang. Doch seine Logik war bestechend gewesen. Auf einen alten Mann, so hatte er überlegt, würde kaum geschossen werden. »Aber direkt vor mir hat es eine junge Frau erwischt. Sie ist einfach zusammengesackt, und jemand hat sie rausgetragen. Da ist mir schon ein bisschen mulmig zumute geworden.« Mikael klaute höchstens einmal eine gegnerische Fahne, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. »Und wer hat daran nicht seinen Spaß?«, meinte er, als wäre es das normalste der Welt. »Ich bin oldschool. Ich will mich nicht mit jemandem prügeln. Alles, was ich will, ist hinterher in der Kneipe ein kühles Bier trinken und mit meinen Freunden quatschen.« Für ihn hatten die Jüngeren einen Irrweg eingeschlagen. An erster Stelle hatte immer und unter allen Umständen der Verein zu stehen. Er blieb ein Jahr in Argentinien, knüpfte Kontakte und tauchte tief in die örtliche Fankultur ein. Die Choreografien in den argentinischen Stadien suchten weltweit ihresgleichen. Die barras schufen riesige Banner, die ganze Ränge verhüllten. Die ausgesprochen kunstvollen telon (Vorhänge) waren beispiellos, und die großartigsten machten nicht selten weltweit Schlagzeilen, etwa als die barra des Zweitligisten Godoy Cruz einen riesigen, einhundert Meter breiten telon mit den Porträts von Maradona, Papst Franziskus (der übrigens ein großer San-Lorenzo-Fan ist) und Messi schuf, versehen mit der Aufschrift »Dios, el Papa y el Mesias« – »Gott, der Heilige Vater und der Messias«. Die argentinischen Gesänge wurden in ganz Südamerika kopiert und gelangten schließlich auch nach Europa, wo sie in die Landessprachen übertragen wurden, um die Lokalhelden zu feiern. Und irgendwann erinnerte sich niemand mehr an ihren Ursprung. Ultras aus ganz Europa pilgerten wie Mikael nach Argentinien, um von den barras zu lernen und das ein oder andere mit zurück in die Heimat zu nehmen.

      Doch die Leidenschaft hat auch eine dunklere Seite. Seit den 1980er-Jahren kontrollieren die barras bravas die argentinischen Stadien – und noch einiges andere daneben. Die Gewalt im argentinischen Fußball hat weltweit nahezu beispiellose Ausmaße angenommen. Jedes Jahr sterben Dutzende Fans durch Gewalttaten, und seit 2013 sind keine Gästefans mehr in den Stadien zugelassen. Die nationale Initiative Salvemos al Fútbol führt eine Liste mit allen bei argentinischen Fußballspielen getöteten Menschen.25 Der erste derartige Todesfall datiert auf 1922. Der argentinische Soziologe Amílcar Romero, der bahnbrechende Studien zur Gewaltkultur im argentinischen Fußball durchführte, sieht als einen entscheidenden Wendepunkt den Tod eines Fans von River Plate 1958 vor dem Estadio Amalfitani von Vélez Sarsfield, nachdem ein Polizist eine Tränengasgranate abgefeuert hatte. In der Folge seien die Fußballfans zunehmend radikaler gegen die Autoritäten, insbesondere die Polizei, aber auch gegen die gegnerischen Fans vorgegangen.26 Laut Romero hat sich die Gewalt in den Jahren von 1958 bis 1983 verändert. Verantwortlich dafür macht er zum einen die gestiegenen finanziellen Mittel, die in die barras gepumpt wurden, zum anderen das aufgewühlte gesamtgesellschaftliche Klima mit Arbeiter- und Studentenprotesten, Staatsstreichen, Massakern und einer Diktatur, in deren sogenanntem »Schmutzigen Krieg« Tausende Linksaktivisten, Journalisten und Künstler »verschwanden«. Romero sah in den barras das Es einer unglücklichen und gespaltenen Gesellschaft. In den Jahren von 1922 bis 1958 wurden insgesamt 16 im Zusammenhang mit dem Fußball stehende Todesfälle verzeichnet. Für die Jahre von 1958 und 1983 kommt Romero auf durchschnittlich fünf Tote pro Jahr (allerdings einschließlich der 71 Opfer der Tor-12-Tragödie im Estádio Monumental im Anschluss an das Spiel Boca gegen River Plate 1968).

      Bis heute sind seit 1922 in Argentinien insgesamt 332 Menschen durch fußballbezogene Gewalt gestorben, Zehntausende weitere wurden verletzt. Romero erklärte: »Bei uns hat die organisierte Gewalt aus dem Fußball auf die übrige Gesellschaft übergegriffen. In Europa war es genau andersherum.«27

      Der bis dato letzte Todesfall ereignete sich am 9. Dezember 2018, als im Anschluss an das Finale der Copa Libertadores (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League) der 21-jährige River-Plate-Fan Exequiel Neris von zwei Boca-Fans erstochen wurde. Der sogenannte superclásico zwischen River Plate und Boca ist Schauplatz einer der weltweit erbittertsten Rivalitäten, und in jenem Jahr standen sich die beiden Vereine erstmals im Finale der Copa Libertadores gegenüber. Als im Verlauf der Copa 2018 der super-superclásico immer wahrscheinlicher wurde, breitete sich Panik unter den Verantwortlichen aus. Im Halbfinale trafen beide Teams auf brasilianische Gegner, was den amtierenden argentinischen Präsidenten Mauricio Macri zu der Aussage verleitete: »Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, dass sich ein brasilianischer Klub durchsetzt, als dass es zu diesem Finale kommt, das uns drei schlaflose Wochen bescheren würde. Ist Ihnen der Druck klar, der da entsteht? Der Verlierer würde sich erst in 20 Jahren

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