Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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dem Triumph 2011 die Copa América in die Höhe, die Uruguay insgesamt bereits 15 Mal gewonnen hat, häufiger als jedes sonstige südamerikanische Land. Rechts präsentiert eine vorwärts gebeugte Figur, vermutlich Edinson Cavani, den Jules-Rimet-Pokal, den Uruguay nach 1930 ein zweites Mal 1950 durch den berühmten Triumph über Brasilien vor 200.000 Fans im Maracanã-Stadion gewann. Links wird Alvaro Pereira von zwei Mannschaftskameraden gestützt, nachdem er bei der WM 2014 in der Partie gegen England durch einen Knietreffer Raheem Sterlings ausgeknockt worden war. Uruguay entschied die Partie mit 2:1 für sich; beide Treffer erzielte Luis Suárez, aktuell der unbestritten größte Star des uruguayischen Fußballs. Selbstverständlich ist er es, der im Zentrum des Bildes die himmelblaue Fahne hält. Im Hintergrund sitzt Mannschaftskapitän Diego Godin aus unerfindlichen Gründen auf einem Schimmel, in der Hand ein mittelalterlich anmutendes blaues Banner mit vier goldenen Sternen für Uruguays zwei WM-Titel und die beiden Olympiasiege. Im Hintergrund ragen der Eiffelturm, die Erlöserstatue, das Estadio Centenario und die Moskauer Basilius-Kathedrale in den Himmel.

      Lässt man das Gemälde hinter sich, folgt am Ende eines Seitenganges ein Tribut an einem Mann, dem in der Geschichte des Fußballs eine ganz andere, doch keineswegs weniger bedeutsame Rolle zukommt. Die gerahmte, im Lauf der Zeit leicht grünlich ausgeblichene Fotografie zeigt einen kräftigen Mann mittleren Alters in dreiteiligem Anzug mit Krawatte. Die Enden seines ausladenden Schnurrbarts neigen sich nach unten, sein Kinnbart ist graugesprenkelt. Das Porträt von 1905 ist leicht zu übersehen. Es zeigt Prudencio Miguel Reyes. Reyes war weder aktiver Fußballer, noch bekleidete er in einem uruguayischen Verein oder im nationalen Verband ein hohes Amt. Der Sattler war für den wenige Jahre zuvor in Montevideo gegründeten criollo (»kreolischen«) Club Nacional de Football tätig, den ersten Verein des Landes, bei dem Uruguayer, nicht Engländer, das Sagen hatten. Seine Funktion an Spieltagen war ebenso praktisch wie notwendig: Als hinchador oblag es ihm, vor und während des Spiels die schweren Lederbälle aufzupumpen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war er aus dem Estadio Gran Parque Central nicht wegzudenken. Und er war anders als die anderen im Stadion.

      Zu jener Zeit galt der Fußball in Uruguay als Kunstform, die man wie eine Oper oder ein Theaterstück genoss. Matches beim Fußball, Tennis, Polo oder sogar Kricket glichen sich mehr oder weniger. Die in Festtagsgarderobe gekleideten Zuschauer verfolgten das Geschehen im – laut Nacionals Comision de Historia y Estadistica – »klassischen angelsächsischen Stil«. Auf den Holztribünen des Parque Central ging es bei den Spielen ordentlich und gesittet zu, »das Publikum bewahrte bei den Partien eine gewisse Ernsthaftigkeit«17, außer bei einem Treffer, doch selbst dann »beschränkte sich die Beteiligung auf gedämpften Applaus oder einen Ausruf der Freude oder Enttäuschung«18.

      Reyes war das vollkommene Gegenteil. Soweit bekannt, war er außerhalb des Parque Central ein stiller und zurückhaltender Mann. Doch sobald er im Stadion seinen Platz am Spielfeldrand einnahm und der Schiedsrichter die Partie anpfiff, war er wie ausgewechselt. Musste er nicht gerade einen Ball aufpumpen, tigerte er an der Seitenlinie auf und ab und feuerte die Spieler lauthals an, um sich im nächsten Moment an die Zuschauer zu wenden und sie nicht minder lautstark aufzufordern, in seine Anfeuerungen einzustimmen, bis sie schließlich von ihm angeleitet im Chor »Nacional vor, Nacional vor, Nacional vor« skandierten und die Mannschaft nach vorn peitschten. Bei den ersten Spielen reagierten die Menschen verblüfft. Die Reporter berichteten über Nacionals El Hincha Pelotas, den Ballaufpumper, der ebenso viel zum Spektakel beitrug wie das Spiel selbst. Unbeirrt brüllte und rannte er weiter, bis er die Zuschauer auf seiner Seite hatte. Mit jedem Heimspiel schlossen sich mehr Anhänger dem Beispiel des »feisten Reyes« mit den »Salamifingern« an, wie ihn der berühmte uruguayische Autor Diego Lucero einmal beschrieb. Etwas Derartiges hatte bis dahin noch niemand gesehen. Unter dem Eindruck von Reyes begannen auch die Gästefans,ihre Mannschaft mit Sprechchören anzufeuern, um anschließend die neue Form des Supports im eigenen Stadion zu übernehmen. Der Verein bemerkt in seiner offiziellen Geschichte zu Reyes: »Bald wurden die Nacional-Anhänger, die am lautesten schrien, als hincha bezeichnet. Später dann ging der Begriff auch auf die Fans der anderen Vereine über, überquerte den Río de la Plata und ging schließlich um die ganze Welt.«

      Heute werden verrückte Fußballfans in der gesamten spanischsprachigen Welt als hinchas bezeichnet. Prudencio Miguel Reyes hat niemals eine WM oder eine olympische Medaille gewonnen und starb weitgehend vergessen im Februar 1948. Noch nicht einmal seine Grabstätte ist bekannt. Doch seine bis dahin unbekannte Form der Unterstützung der eigenen Mannschaft erwies sich als revolutionär. Sie trug maßgeblich dazu bei, die imaginäre vierte Wand der Fußballbühne zu durchbrechen, und veränderte dauerhaft das Verhältnis zwischen Zuschauern und Spielern. Die Fans verharrten nicht länger in der Passivität. Sie waren von der Kette gelassen und verbreiteten den Virus ihrer Leidenschaft. Prudencio Miguel Reyes war der Patient null: der erste barra brava, der erste torcedore, der erste Ultra, der erste Fan, El Primer Hincha.

      Ich hatte mir Mikael größer vorgestellt. Wir hatten uns mehrere Wochen auf WhatsApp über unsere bevorstehende Reise ausgetauscht, und vereinbart, uns im 12.000 Kilometer entfernten Montevideo zu treffen, um den uruguayischen clásico zwischen Nacional und Peñarol zu verfolgen. Mikael ist einer der bestvernetzten Protagonisten der europäischen Ultra-Szene, ein Schwede, der zu Beginn der 1990er-Jahre bei seinem Klub Hammarby die erste Ultra-Gruppierung des Landes gegründet hatte. Auch wenn sein Herz Hammarby gehört, war ihm stets bewusst gewesen, dass die Welt sehr viel größer ist. Er hatte mir erzählt, wie er 1978 als Neunjähriger gebannt das WM-Finale zwischen Argentinien und den Niederlanden verfolgt hatte – nicht etwa wegen des Spiels, sondern wegen des blau-weißen Konfettigestöbers, das von den Rängen auf den Rasen des Estadio Monumental in Buenos Aires niederging. Eine solche Atmosphäre hatte er irgendwie auch in Hammarby erschaffen wollen. Er war um die Welt gereist, ausgiebig in andere Fußballkulturen eingetaucht und mit seinen Eindrücken im Gepäck nach Schweden zurückgekehrt. Tiefe Freundschaften verbanden ihn unter anderem mit den Roma-Ultras, denen von Rapid Wien oder den Griechen von Panathinaikos. Doch der eigentliche Grund für unseren Kontakt war, dass er ein Jahr unter den argentinischen barras bravas verbracht hatte, insbesondere bei der barra der Boca Juniors, der womöglich berüchtigsten Fangruppierung der Welt, La Doce (»Die Zwölf«), die ihren Namen der Tatsache verdankt, dass sie Bocas zwölfter Mann ist.

      Die Grundpfeiler der globalen Ultra-Bewegung sind einerseits Vertrauen, andererseits Misstrauen. Kein Ultra vertraut einem Journalisten, doch unter den Gruppierungen besteht weltweit ein inoffizieller Ehrenkodex. Sofern sich jemand für einen verbürgt, stehen einem alle Türen offen. Wenn nicht, bleiben sie verschlossen. Wie bei den europäischen Ultras und Hooligans war es auch bei den barras bravas außerordentlich schwierig, Gesprächspartner zu finden. Diese organisierten Fangruppierungen werden oftmals als die südamerikanische Variante der Ultras bezeichnet. Ihre ersten Vorläufer tauchten in den 1920er-Jahren in Argentinien auf und breiteten sich von dort schon bald über den gesamten spanischsprachigen Subkontinent aus. In den barras versammeln sich die heißblütigsten hinchas eines Vereins, ihnen verdankt sich die einzigartige Atmosphäre in den südamerikanischen Stadien, die weltweit ihresgleichen sucht und den Stadionbesuch zu einem einzigartigen Erlebnis macht. Doch zugleich haben die barras auch eine finstere und gewalttätige Seite und den Schritt von der ritualisierten Fußballgewalt zum organisierten Verbrechen vollzogen. In Argentinien und Uruguay kontrollieren die äußerst mächtigen barras sämtliche Geschäfte rund um das Stadion, von den Parkplätzen über Tickets und Drogen bis zu den Imbiss- und Fanartikelständen. Die Begegnung Nacional gegen Peñarol gehört zu den größten clásicos Südamerikas – und zu den gewalttätigsten. Doch während in Argentinien die Gewalt derart eskaliert war, dass seit sechs Jahren keine Auswärtsfans mehr zugelassen waren, konnte Nacionals barra La Banda del Parque das Spiel vor Ort im Stadion verfolgen. Mikael würde mein Fremdenführer, Mittelsmann und, so hatte ich gedacht, Bodyguard sein.

      Mikael ging auf die 50 zu und war rund 30 Zentimeter kleiner als ich. Er hatte einen langen Pferdeschwanz und einen Rauschebart. Sein hellblaues West-Ham-United-Shirt mit dem Aufdruck »Cockney Rejects« verdeckte nur unzureichend seine Tattoos. Gleich

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