Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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noch nie ein Banner gestohlen worden, nicht zuletzt, weil ihm gelingt, was niemand anderem gelingt: zwischen den barras hin und her zu wechseln, ohne dass Rivalitäten oder Stammesdenken ihm in die Quere kommen – allein wegen seiner Arbeit.

      Dass Pepe von allen rivalisierenden barras gleichermaßen geschätzt wird, verdankt er in erster Linie dem einzigen Prinzip seiner Arbeit: Er hat noch nie ein Werk geschaffen, das sich gegen irgendjemanden gerichtet hätte. Boca-Fans hatten von ihm Schmähbanner gegen River gewollt, doch »ich male ausschließlich für eine barra, nicht gegen einen anderen Klub«. Ein einziges Mal führte seine Bereitschaft, telones für jeden zu gestalten, dazu, dass sich eine barra von ihm abwandte. Pepe hatte von River Plate den Auftrag für ein riesiges Banner erhalten. Sein Vater, der seiner Kunst stets skeptisch gegenübergestanden hatte, war ein Fan des Vereins gewesen, dennoch hatte Pepe ihm nichts von dem Auftrag erzählt. Sie waren gemeinsam ins Monumental gegangen, wo der Vater miterlebt hatte, wie die Kunst seines Sohnes vor einem frenetischen Publikum entrollt worden war. Kurz darauf war er gestorben, doch nicht ohne verstanden zu haben, wofür sein Sohn lebte. Allerdings hatte das Banner Folgen gehabt. La Doce hatte sich nie wieder bei Pepe gemeldet.

      Auf den ersten Blick ergeben die trapos, die telones und die Zettel-Choreos nur wenig Sinn. Es sind hochdekorative, technisch anspruchsvolle und kostspielige Kunstwerke, deren an die eigene Mannschaft oder die Welt gerichtete Botschaft – sei es ein Gedenken, eine Warnung oder auch eine politische Aussage – nur wenige Sekunden zu sehen ist und dann auf immer verschwindet. Häufig werden die Banner im Anschluss verbrannt, damit sie nicht den gegnerischen Fans in die Hände fallen können. Für Pepe jedoch ergibt das alles vollkommen Sinn. Dank der modernen Technik und den sozialen Netzwerken werden seine Schöpfungen auf ewig bewahrt. Vor allem jedoch drücken sich in ihnen Stolz und Support aus, sodass sie ohnehin stets nur für einen bestimmten Moment und einen engen Kreis gedacht sind. Pepe erklärte: »Ursprünglich sollte die Fahne bei einem Fußballspiel nur die Verbundenheit mit dem eigenen Viertel zeigen. Für mich war das immer so eine heraldische oder mittelalterliche Sache. So etwas wie das eigene Abzeichen auf dem Schlachtfeld.«

      »Gibt es noch einen Klub, für den du gern arbeiten würdest?«, fragte ich ihn.

      »Nein, da gibt es keinen Klub für mich!«, erwiderte er, und genau so war es. Ihm ging es nicht um Klubs oder Mannschaften. Sondern um Stadien. Er sprach nicht von Real Madrid, sondern vom Bernabeu. Er sprach nicht von der barra des Club América oder den hinchas der mexikanischen Nationalmannschaft. Er sprach von dem Estadio Azteca. »Meine Museen sind die Zäune und Tribünen der Stadien«, stellte er fest. »Der beste Rahmen für meine Kunst sind die besten Stadien. Will man Gemälde und Skulpturen sehen, geht man in ein Museum. Und mein Museum sind die Stadien.«

      Mikael gab eine kleine Fahne für Hammarby in Auftrag, bevor Pepe auf den Computer schaute und sah, dass er schon spät dran war. Im Stadion von Vélez Sarsfield wartete ein wichtiger Job auf ihn. Er sprang mit einer Zigarette im Mundwinkel auf seine Harley Davidson und bretterte Richtung Schnellstraße. Fünfzehn Minuten darauf kam er – mit uns im Schlepptau – am Estadio José Amalfitani an. Pedro Paz erwartete uns bereits. Pedro war ein Hüne von einem Mann, mehr als zwei Meter groß und mit schulterlangen dunklen Haaren.

      »Jefe Ultra«, begrüßte Pepe ihn. Pedro war der »jefe« oder Boss der barra von Velez Sarsfield, La Pandilla. Der Sicherheitsmann am Stadiontor sprang auf und zückte seine Schlüsselkarte, als er ihn kommen sah. Pedro sagte: »Wir wollen etwas ganz Besonderes für unser Klubheim.« Es ging um ein Wandbild für das Hauptquartier der barra. Freundlich und charismatisch geleitete Pedro uns durch die Klubgeschichte und zeigte uns etwa die Statue des jungen Carlos Bianchi, der als erfolgreicher Torjäger bei dem Klub gespielt und ihn 1994 als Trainer zu den Triumphen in der Copa Libertadores und dem Weltpokal geführt hatte, oder den Pokalraum mit den Trophäen aus Bianchis erfolgreicher Trainerzeit. Alle paar Schritte wurde er wie ein heimgekehrter Held begrüßt. Ältere und jüngere Frauen verließen ihre Schreibtische und Tresen, um ihn zu umarmen. Pedro kannte jede beim Namen. Als wir am Schwimmbad vorbeikamen, das nach dem 2011 verstorbenen ehemaligen barracapo Marcos »Marquitos« Lencina benannt war, scharten sich die Kinder um ihn und hüpften hoch, um ihn abzuklatschen. Er erinnerte an Arnold Schwarzenegger an seinem zweiten Undercover-Tag in Kindergarten Cop.

      Bei dieser Gelegenheit sah ich erstmals mit eigenen Augen den Einfluss der barras in den argentinischen Vereinen. Der Ex-Präsident von Vélez, Raul Gamez, hatte zuvor sogar als Anführer der barra wegen polizeifeindlicher Ausschreitungen sechs Monate im Gefängnis gesessen. Anschließend hatte er sich bei den Gremien des Vereins eingeschmeichelt und war letztlich gewählt worden. Doch wie ein Rockabilly-Opa, der über die K-Pop hörende Jugend von heute lamentiert, hatte er zuletzt die nachwachsende Generation der barra kritisch beäugt und erklärt: »Wir sind vor 50 Jahren ›gute Jungs‹ gewesen, als die Gesellschaft noch eine andere war. Damals herrschten noch andere Sitten, und Drogen waren für uns kein Thema.«31 Besonders kritisch sah er die zunehmende Politisierung der barra. Mit der Formulierung »gute Jungs« griff er eine Äußerung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner auf, die kurz vor dem aus Steuergeldern finanzierten Trip der Anführer der bedeutendsten Gruppierungen zur WM 2010 in Südafrika die barras so genannt hatte. Doch die politischen Beziehungen reichten noch tiefer. Gewerkschaften, Unternehmen und sogar Parteien engagierten die barras häufig für Aktionen gegen ihre jeweiligen Gegner. Gamez sagte: »Die Politiker brauchen [die barras] und setzen sie als gewaltbereite Handlanger ein. Die Vereinsspitzen wollen kein Problem mit den barras, also schließen wir Pakte mit ihnen. Wir haben keine andere Wahl, denn es gibt keine Garantien [für unsere Sicherheit].«32

      Pedro erklärte im Dämmerlicht ihrer Turnhalle, was er sich vorstellte: ein wandfüllendes Gemälde zu Ehren seines Vorgängers Marquitos. Auf der gegenüberliegenden Wand trocknete das frische Bild einer Cartoon-Bulldogge. Pedro zückte zur Erklärung sein Handy und spielte ein YouTube-Video ab, auf dem sein Held zu sehen war, der frühere, für seine Freistöße berühmte Vélez-Torwart José Luis Chilavert (Spitzname »El Bulldog«). Chilavert hatte 1996 gegen River Plate einen Freistoß von der Mittellinie verwandelt und 1994 im Finale der Copa Libertadores nicht nur einen Elfmeter gehalten, sondern auch selbst einen versenkt.

      Es war Zeit zum Aufbruch. Wir mussten nach Bajo Flores, um Mauro zu treffen, einen der mächtigsten Männer von La Doce. Doch gerade, als wir aufbrechen wollten, klingelte Mikaels Handy. Einer seiner Kontaktmänner, ein Vertrauter von Rafa. Juan, eines der ältesten Mitglieder von La Doce, hatte von dem Treffen erfahren und war misstrauisch geworden. »Er meint, wir sollten nicht hingehen. Es könnte eine Falle sein«, berichtete Mikael ein wenig geknickt. Gegen das Treffen selbst war nichts einzuwenden, doch bei dem Ort, an den Mauro uns bestellt hatte, hatten bei Juan die Alarmglocken geklingelt.

      Mikael schrieb seinem Kontakt, dass er Magenprobleme habe.

      Juans Büro war ein den Boca Juniors geweihter Tempel. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine chaotische Collage seines Lebens. Ein gerahmtes signiertes Trikot. Fotografien von alten Spielen, Stadien und lange verstorbenen Freunden aus der barra. »Als ich Rafa gestern von eurem Treffen mit Mauro in Baja Flores erzählt habe, hat er gemeint: ›Vorsicht, die werden sie überfallen‹«, berichtete der muskulöse mittelalte Mann mit dem vollen grauen Haar, der womöglich Mikael und mir das Leben gerettet hatte. Sein Handschlag fühlte sich an, als könne er mühelos meine Finger zerquetschen. In der Ecke lehnte eine geladene Schrotflinte, auf dem Regal daneben stand ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Patronenbündel. Juan erklärte, dass das ein Geschenk von Aldo Rico sei, einem ehemaligen Offizier, der in den 1980er-Jahren zwei fehlgeschlagene Putschversuche unternommen hatte.

      »Was genau soll ›überfallen‹ heißen?«, fragte ich.

      »Sie können euch zusammenschlagen, sie können alles machen, was sie wollen, denn sie sind wie eine Mafia«, sagte er. »Vielleicht geht ihr ganz

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