Unter Ultras. James Montague

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Unter Ultras - James  Montague

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weniger einer Pralinenschachtel als einer in der Mitte durchgeschnittenen Torte.

      La Bombonera nach dem Anpfiff zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung. Die ununterbrochenen Gesänge und treibenden argentinischen Trommeln zusammen mit den zum Rasen steil abfallenden Tribünen führten dazu, dass mir schwummrig zumute wurde. Man begriff sofort, weshalb die argentinischen Fangesänge – schnell, kompliziert und tatsächlich eher Gesänge, kein Gebrüll – und die telones einen weltweit unvergleichbaren Einfluss gewinnen konnten und in Stadien von Madrid bis Jakarta zunächst nur vom Hörensagen, später auch mithilfe des Internets kopiert und weiterentwickelt worden waren. Doch dann ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Athletico ging in Führung, und die Gesänge schwollen nur noch weiter an. Wie Mikael mir hinterher berichtete, war das immer so. Unmittelbar nach dem Gegentreffer sangen Bocas hinchas derart lautstark, als hätte gerade ihr Team getroffen. Sie stimmten das berühmte Lied »Si, Señor« an, ihre Version des argentinischen Rocksongs »Y Dale Alegría a mi Corazon« von Fito Páez aus dem Jahr 1990, auch wenn River Plate und San Lorenzo jeweils für sich beanspruchen, den Song als Erste aufgegriffen zu haben. Eine Frage, die für immer offenbleiben wird.

      Und schenk meinem Herzen Freude,

       Ich bitte dich nur um eines: siege heute!

       Die Copa Libertadores ist meine

      Leidenschaft Gib dein Herz und deine Seele,

      Du wirst sehen,

      Wir sind nicht wie die Feiglinge von River Plate.

      Die Spieler hatten mit dem aufgeweichten, ramponierten Rasen zu kämpfen. Nur Carlo Tevez nicht. Auch wenn der Nationalmannschaftsstürmer bei Anpfiff auf der Ersatzbank gesessen hatte, war er Bocas unbestrittener Star und der Held der Bombonera. Tevez war in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich aus dem barrio bis in Bocas erste Mannschaft hochgekämpft. Nach dem Gewinn der Copa Libertadores und der argentinischen Liga hatte sein Weg ihn zunächst nach Brasilien zu Corinthians und dann über den Atlantik nach Europa geführt, wo er sich bei West Ham, Manchester United, Manchester City und Juventus einen Namen gemacht hatte. Unterbrochen von einem kurzen und lukrativen, wenn auch peinlichen, Abstecher nach China, stand er nun zum dritten Mal bei Boca unter Vertrag. Als Kind des barrio galt er zugleich als Spieler der barra. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr zum Verein war ein Foto geschossen worden, das Tevez beim Abendessen mit Rafa und Mauro zeigte. Niemand konnte bei Boca reüssieren, ohne zunächst La Doce die Reverenz zu erweisen.

      Nach Tevez’ Einwechslung kippte das Spiel. Er schien sich schneller durch den Acker zu wühlen, als seine Mitspieler auf dem Geläuf rennen konnten. Kurz nach dem Rückstand glich Boca aus, und tief in der Nachspielzeit gelang Tevez in der 96. Minute der Siegtreffer. Ein infernalischer Lärm brach aus, als würden gleichzeitig tausend Instrumente tausend Treppen hinuntergeworfen. Der ekstatische Jubelausbruch mündete erneut in Gesänge, und endlich ertönte der Schlusspfiff. Die Zuschauer sangen immer weiter, indessen sie sich wie eine Welle in alle Himmelsrichtungen in die Straßen von La Boca ergossen und sie verstopften. In dem Gedränge konnte ich kaum mein vibrierendes Handy hervorkramen. Mikael erwartete mich draußen. Wir mussten uns beeilen. Rafa di Zeo hatte sich zu einem Treffen bereiterklärt. Wir mussten sofort los.

      Wir stürmten durch das Gewirr dunkler, feuchter Gassen, die La Bombonera umgaben, vorbei an Reihen von Polizisten und jubelnden Fan-Pulks. Vorbei an Wandgemälden von Bocas unbestrittenem Helden Diego Maradona. Vorbei an einem Bild des Union Jacks mit Totenkopf und gekreuzten Knochen in der Mitte und der Aufschrift: »Wir werden mit der Hand Lateinamerikas auf die Malvinas zurückkehren.« Mehrmals bogen wir falsch ab, bis wir schließlich zum angegebenen Treffpunkt gelangten. Eine Tankstelle. Kurz dachte ich, wir hätten uns in der Adresse geirrt, doch dann sah ich einen bewaffneten Polizisten, der vor dem Laden Wache schob. Er verschwand, kaum dass wir dort ankamen. Mehrere Bodyguard-Typen, einer mit La-Doce-Basecap auf dem Kopf, nahmen uns in Empfang und geleiteten uns in eine finstere, unbeleuchtete Seitengasse.

      Von hier aus also wurden die La-Doce-Geschäfte geführt, einem Parkplatz hinter einer Tankstelle. Etwa 30 bis 40 Männer hatten sich versammelt, alle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren: Rafa di Zeos Leibgarde, die Getreuesten der Getreuen. Beäugt von den Männern, warteten wir im Zentrum des Parkplatzes. Schließlich trat Juan vor und legte uns die Regeln dar. Fotos waren nicht gestattet. Keine Filmaufnahmen. Kein Tonmitschnitt. Unter keinen Umständen durfte ich Rafa gegenüber erwähnen, dass ich Brite war. Der Falklandkrieg war unvergessen. Eines der älteren Mitglieder von La Doce, Mono (»Affe«), hatte noch dort gekämpft. Ich sollte mich unbedingt als Schwede wie Mikael ausgeben und sagen, dass ich über die Verbindung von Verein und schwedischer Flagge schreiben wolle. Angeblich soll das Blau und Gold von Boca auf ein schwedisches Schiff zurückzuführen sein, das gerade im Hafen lag, als man die Vereinsfarben auswählte. Auf gar keinen Fall sollte ich Fragen zum Krieg zwischen Rafa und Mauro stellen. Auch Mikael hatte mich bereits davor gewarnt, das Zerwürfnis der beiden anzusprechen. Falls doch, würde er gar nicht erst auf eine Antwort warten, sondern sofort abhauen und mich meinem Schicksal überlassen. Er war überzeugt, dass das nur ein böses Ende würde nehmen können.

      Wir harrten eine halbe Stunde auf dem Parkplatz aus, bis Rafa sich schließlich aus dem Heck eines Wagens schälte, wo er noch etwas Geschäftliches erledigt hatte. Er trat zu uns und reichte mir die Hand. Rafa sah nicht wie einer der gefährlichsten Männer Buenos Aires’ aus. Er war Ende Fünfzig, großgewachsen, graue Mittelscheitelfrisur. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug der Boca Juniors und glich eher dem Sänger einer Nu-Metal-Band aus der Mitte der 1990er-Jahre, die für ein letztes Comeback-Konzert zurückgekommen war. Seine engsten Vertrauten schlossen sich zu einem Ring um uns, doch Rafa war vom ersten Augenblick an äußerst charmant und willigte ein, dass ich unser Gespräch mitschnitt.

      »Was ist La Doce?«, fragte ich ihn.

      »Das lässt sich kaum in wenigen Worten sagen«, erklärte er und gab uns in der Folge einen porentief reingewaschenen Abriss der letzten vier Jahrzehnte. »Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr bei La Doce dabei, seit knapp 40 Jahren also. Eine lange Zeit. Damals gab es noch einen anderen Boss [den Schlachter]. Nachdem ich Mitglied geworden war, blieb der Boss noch zwei Jahre, dann kam ein anderer und blieb eine ganze Weile. Er [der Großvater] war mein Lehrmeister. Als es dann Probleme in der Gruppe gab, habe ich den Posten übernommen. Seit Ende 1994 bin ich für die barra verantwortlich.«

      »Was ist Ihre Aufgabe bei La Doce?«

      »Als Anführer hat man den größten Einfluss, in jederlei Hinsicht«, sagte er. »Durch den technischen Fortschritt ist heute alles ein bisschen anders. Früher musste man als Boss mit den anderen hinchadas kämpfen. Es gab viel mehr Gewalt. Heute ist es ruhiger. Der Staat geht viel härter gegen uns vor. Als ich anfing, musste man sich prügeln, um sich seinen Platz zu verdienen. Immer dabei sein, in vorderster Front … Das ist heute nicht mehr so.«

      Das harte Vorgehen des Staates hatte dazu geführt, dass Rafa nicht bei dem Spiel hatte sein können. Gegen ihn war zunächst ein zweijähriges Stadionverbot verhängt worden, das eigentlich wenige Wochen vor dem heutigen Spiel ausgelaufen wäre. Doch kurz bevor es so weit war, wurde ein neues, nunmehr vierjähriges Stadionverbot gegen Rafa, Mauro und 126 weitere La-Doce-Mitglieder verhängt.40 Also hatte er die Partie im Fernsehen verfolgen müssen. Die barra, sagte er, »ist gegen die Autoritäten, vor allem gegen die Polizei. Sie ist gegen jegliche Autoritäten. Daher darf niemand, der Verbindungen irgendwelcher Art zu den Autoritäten unterhält, bei uns Mitglied sein. Wenn doch, schmeißen wir ihn raus und schlagen ihn zusammen.« Ich fragte ihn nach der Bedeutung der Gewalt für die barra und wieso La Doce von den Autoritäten gefürchtet wurde. Ich spürte Mikael in meinem Rücken zusammenzucken, doch Rafa hatte kein Problem, darüber zu reden.

      »Sie haben Angst vor unserer

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