Unter Ultras. James Montague
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Inzwischen war die Band bereit für ihren Auftritt. Während wir uns unterhalten hatten, hatte die Vaca Atolada sich zum Bersten gefüllt. Die Musiker saßen um einen großen Tisch mitten in der Bar, um sie herum drängten sich die Menschen. Cláudio musste arbeiten. Doch bevor er nach drinnen verschwand, sagte er noch: »Wer die Gesänge kontrolliert, hat die Macht.«
Rafael wartete um Punkt neun Uhr morgens mit einem rot-schwarzen Flamengo-Trikot in der Hand vor meinem Hotel. Er reichte es mir und sagte: »Du solltest es anziehen. Es würde seltsam wirken, wenn du dort ohne auftauchst.« Rafael war ein junger Filmemacher, der mich in der Vaca Atolada eingeführt und Cláudio vorgestellt hatte. Auch er war doente por Flamengo. Es war ein Sonntag, und im Maracanã stand das Spiel gegen Chapecoense an, jenen Verein, der ein Jahr zuvor auf tragische Weise nahezu die gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Kein Verein aus Rio, also auch kein Derby, dennoch wurde mit einem ausverkauften Stadion gerechnet. Das war eine Seltenheit im brasilianischen Fußball. Seit einigen Jahren gab es zwar kaum noch Gewalt in den Stadien, doch der Weg zu den Spielen war mittlerweile derart gefährlich, dass der Zuschauerschnitt in der brasilianischen Série A bei lediglich 15.000 lag. Entgegen der herkömmlichen Fußballlogik kamen insbesondere zu den großen Derbys die wenigsten Zuschauer. Tags zuvor bei Fluminese gegen Botafogo war das Maracanã nur halb voll gewesen. Doch die Liga hatte sich eine neue Lösung einfallen lassen und den Anstoß auf 11 Uhr am Sonntagmorgen verlegt. »Ich denke, so ist es besser«, sagte Rafael auf dem Weg durch merkwürdig leere Straßen zum Maracanã. »Die Leute wollen den torcidas den schwarzen Peter zuschieben. Sie sagen, dass sie gewalttätig seien. In Brasilien haben die Leute Angst, ins Stadion zu gehen, daher der niedrige Zuschauerschnitt. Aber das Lustige ist, dass es in einem Stadion schon lange keine schlimmen Krawalle mehr gegeben hat. So etwas kommt kaum noch vor.«
Raça war aus dem Maracanã verbannt worden, doch Rafael hoffte, dass Cláudio für eine Wende und die Aufhebung des Stadionverbots sorgen und den ursprünglichen Geist der torcida wiederbeleben würde. »Jetzt, mit Bolsonaro an der Macht, versucht Cláudio, den Leuten bewusst zu machen, wie wichtig die torcidas sind, und ihnen vor Augen zu führen, was gerade in Brasilien abläuft«, sagte Rafael. Cláudio war aufrichtig überzeugt, dass die torcida erneut zum Bollwerk gegen den Faschismus werden könne, wie einst zu seiner Zeit. Auch die torcidas anderer Vereine begannen sich zu organisieren, und zu Jahresende sollte ein antifaschistisches torcida-Treffen stattfinden.
»Viele Polizisten unterstützen ihn [Bolsonaro]«, erklärte Rafael. »Letzten Monat wollte jemand mit einem antifaschistischen Flamengo-T-Shirt ins Maracanã. Er wurde nicht reingelassen. Im Grunde leben wir bereits wieder in einer Diktatur, vor allem, wenn man an die Polizei denkt.«
Vor den Eingängen des Maracanã geriet der Strom der 60.000 Zuschauer ins Stocken. Eine buntgemischte Menge drängte in das ausverkaufte Stadion. Im Vorfeld der WM 2014 war ich wegen der damaligen Proteste nach Rio gekommen und hatte auf den Straßen das wahre Brasilien in all seiner Vielfalt kennengelernt. Doch die hohen Eintrittspreise bei der WM und dem vorhergehenden Confederations Cup hatten sich nur die Privilegierten leisten können. Bei den Spielen hatte man ausschließlich weiße Gesichter gesehen. Dagegen bot das bevorstehende Spiel ein weitaus getreueres Abbild von Rio. Nach Nationalhymne und Anpfiff stimmten die Zuschauer ihre Gesänge an. Rafael sagte: »Viele unserer Fans sind arm, darum haben die anderen uns immer angepöbelt: ›Ach, die Favelas, die Favelas!‹ Wir haben ihren Sprechchor übernommen und ins Gegenteil verkehrt: ›Favela, Favela, Party in der Favela‹.«
Flamengo ging rasch mit 1:0 in Führung. Der ausgelassene Jubel der Zuschauer brachte das Stadion zum Beben. Noch vor der Pause bekam die Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen, verschoss allerdings. Zur Halbzeit wurde das Team ausgepfiffen. Rafael meinte: »Es reicht nie. Wenn sie drei Tore machen, verlangen die Zuschauer vier.« Doch etwas fehlte: die Musikbands, die Charanga-Klänge, die Pyrotechnik und die Fahnen. Nach der Gewalt und dem anschließenden harten Durchgreifen der Polizei ließen sich der Stil und die Atmosphäre der alten torcida nicht einfach wiederbeleben. Laut Rafael hatten die Verantwortlichen es sich »leicht gemacht«. Sie hatten einfach das Vorgehen der englischen Autoritäten gegen die Hooligans kopiert und die Fangemeinde als Ganzes abgestraft, nicht etwa den einzelnen Gewalttäter.
Flamengo siegte 2:1, und die Pfiffe zur Halbzeit waren vergessen. Unmittelbar nach Spielende begann irgendwo unterhalb von uns eine Blaskapelle zu spielen. Wir stürmten hinab und kämpften uns durch die Menge, bis wir sie gefunden hatten – die Charanga do Flamengo: eine Trompete, zwei Hörner, eine Basstrommel und eine Snaredrum. Sie durfte nicht mehr auf die Tribüne, doch sie war noch am Leben und spielte ihre Stücke, allerdings nur, wenn Flamengo gewann. Seu Gigi, der Präsident der Charanga, erklärte: »Wir waren die erste torcida der Welt!« Gigi war weit über 70, hatte einen buschigen weißen Schnurrbart und spielte die Snaredrum. Seit 40 Jahren war er der Präsident, einer von bislang nur dreien: Jayme, dessen Frau Laura, die nach Jaymes Tod 1976 kurzzeitig das Amt übernommen hatte, und Gigi. »Wir führen [Jaymes] Tradition fort und machen immer weiter.«
Genau das war die Charanga heute: eine Kapelle und eine Tradition, die schon lange von der inzwischen im brasilianischen Fußball herrschenden torcida-Kultur überholt worden war. Doch die Charanga hatte nicht nur den Klang in den brasilianischen Stadien verändert. Sie hatte zudem die Optik und die Musik des brasilianischen Karnevals in der Welt verbreitet. Mittlerweile mochte sie ein historisches Relikt sein, doch sobald sie zu spielen begann, wusste jeder instinktiv, was zu tun war. Eine vieltausendköpfige Prozession folgte der Charanga hinaus in die gleißende Mittagssonne. Betrunkene junge torcedores, alte Frauen und Kinder, die auf den Schultern ihrer tanzenden Eltern auf und ab hüpften. Alle sangen Flamengos Hymne:
Einmal Flamengo,
Immer Flamengo,
Ich stehe für immer hinter Flamengo,
Keine Freude so groß, wie wenn ich es glänzen sehe,
Ob zu Land oder zur See,
Einmal Flamengo,
Flamengo bis zum Tod.
TEIL ZWEI: KEIN GESICHT, KEIN NAME
»Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit sagen.«
Oscar Wilde, Der Künstler als Kritiker
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