Unter Ultras. James Montague
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Feuerwerkskörper und Fahnen waren durchaus nichts Ungewöhnliches in brasilianischen Stadien, die Musikband dagegen schon, und binnen kurzer Zeit fand die Charanga landesweit Nachahmer. Die Lieder der Straßen und des Karnevals wanderten in die Stadien, und Jayme wurde Brasiliens erster Super-Fan. Der Verein stellte ihn an und schickte ihn auf Auslandsreisen. Er hatte sogar einen Ausrüstervertrag mit einem Kleidungsunternehmen. Er war annähernd so berühmt wie die Spieler, so berühmt, dass er vor der WM 1950 zum Chefe dos Chefes de Torcida Brasileira ernannt wurde. Das soeben fertiggestellte Maracanã bildete den würdigen Rahmen für eine Mannschaft, von der erwartet wurde, dass sie den Titel holte. Jayme sollte die Charanga auf internationaler Bühne präsentieren und zugleich dazu beitragen, die gewaltbereiten Impulse der Menge in Zaum zu halten. Bernardo Buarque de Hollanda stellte hierzu in einem Aufsatz in Football and the Boundaries of History fest: »Man wollte unbedingt das Bild eines vernünftigen Staates abgeben, daher übertrugen die Offiziellen die Aufgabe, die Fans und ihr Verhalten zu lenken, weitgehend an Jaime [sic!] de Carvalho. Den Organisatoren war bewusst, wie wichtig ein Wortführer unter den Fans sein würde, um die Polizeichefs bei der Durchsetzung eines wohlgefälligen Verhaltens zu unterstützen.« Und das tat Jayme. Mit seiner Torcida Brasileira begleitete er jedes Spiel der brasilianischen Mannschaft. Bei Brasiliens 6:1-Erfolg über Spanien begannen die Zuschauer »Bullfights in Brazil« von João de Barros zu singen. Barros »war ganz gerührt und ihm kamen die Tränen, als er hörte, wie sein Lied von einer Menge von geschätzt 200.000 Menschen gesungen wurde«.50
Doch dann verlor Brasilien das Finale gegen Uruguay durch den berühmt-berüchtigten Maracanazo (»Schock von Maracanã«), der nicht nur bei den Spielern, sondern im gesamten Land tiefe Spuren hinterließ. Das einzig Erfreuliche war, mit welch erstaunlicher Fairness die Fans die Niederlage hinnahmen. Doch die wohl folgenreichste Wirkung hatte Jaymes Engagement bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Turniers erzielt, und zwar bei Brasiliens 2:0-Sieg über Jugoslawien. Die Filmaufnahmen des Spiels sind von recht bescheidener Qualität – die FIFA begann erst 1954, die WM-Endrunden vernünftig aufzuzeichnen –, doch in den existierenden Ausschnitten erkennt man explodierende Feuerwerkskörper, Spruchbänder und die Band im Vordergrund. Der Lärm der von der Charanga angeführten 142.000 Zuschauer hinterließ bei den Gästen bleibenden Eindruck. Ohne Jayme de Carvalho und seine Charanga wäre Hajduk Splits Torcida nie gegründet worden.
Jayme de Carvalho war Cláudios großer Held. Gemeinsam mit seiner Frau Laura führte Carvalho die Charanga und die Torcida Brasileira auch zu den WM-Endrunden in der Schweiz, Schweden, Mexiko und der Bundesrepublik Deutschland und machte so bis zu seinem Tod 1976 ein internationales Publikum mit dem Charanga-Sound bekannt. Cláudio stürmte in die Bar und kehrte mit einem Buch zurück. »Jayme war der allererste Fan, der im Vereinstrikot auf der Tribüne auftauchte«, sagte er und reichte mir das Werk, das er Jayme gewidmet hatte, ein Bildband mit Geschichten und Fotos aus Jaymes Leben. »Verstehst du, wie wichtig die Charanga do Flamengo war?«
Mitte der 1960er-Jahre erlebte Brasilien einen Wandel mit einer rasanten Urbanisierung. Der Putsch von 1964 war der Beginn einer jahrzehntelangen Militärdiktatur. Die neue Fangeneration war jung und arm und lechzte nach Veränderungen. Die bestehenden torcidas waren letztlich ein Produkt ihres Vereins. Ihre Anführer, auch wenn sie wie Jayme nur das Beste wollten, galten als Angestellte des Vereins, dagegen wollten die jüngeren Fans sich von jeglichen Autoritäten befreien. Neue Gruppierungen wie die Torcida Jovem do Flamengo entstanden und schreckten nicht davor zurück, das eigene Team auszupfeifen. In Leserbriefen an Rios Zeitungen beklagte der vom Krebs befallene Jayme de Carvalho am Ende seines Lebens die neue Einstellung. »Flamengo lehrt uns, vor allem Brasilien zu lieben.«51
Im Jahr 1968 stattete Königin Elizabeth II. dem Land einen Staatsbesuch ab. Am vorletzten Tag ihres Aufenthalts besuchte sie eine All-Star-Partie zwischen Rio und São Paolo mit Pelé in seinen Reihen. Unter der beeindruckenden Menge der 200.000 Zuschauer im Maracanã befanden sich auch, an ihren angestammten Plätzen, die torcidas von Botafago, Vasco da Gama, Fluminese und Flamengo.52 Auch Cláudio war dort. »Völlig unvermittelt ertönte ein Werbejingle für die Kekse von São Luiz, so in etwa …« Er räusperte sich und begann zu singen: »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns São-Luiz-Kekse.« Die Menge griff den Jingle im Handumdrehen auf, doch mit einer entscheidenden Abwandlung. »Alle begannen zu singen …«, er räusperte sich erneut, »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns den Arsch der Queen.« Eine linksgerichtete Tageszeitung berichtete später, die Queen habe, bevor sie Pelé den Siegerpokal überreichte, ihren Gastgebern versichert, wie schön die Gesänge gewesen seien. Der beschämte Dolmetscher hatte notgedrungen zu einer Lüge gegriffen und behauptet, die Menschen würden ihr zu Ehren singen.
Raça entwickelte sich über eine reine Fangruppierung hinaus zu einem Treffpunkt der multikulturellen Jugend Rios, einer Oase, wo man frei seine Ansichten äußern konnte, auch wenn diese hin und wieder ausgesprochen anstößig waren. Immer mehr torcidas lösten sich von den Vereinen und wurden unabhängig, indessen die althergebrachten torcidas der vorherigen Generation, wie die Charanga, an Bedeutung verloren. Cláudio war mit der Entwicklung der brasilianischen torcidas und ihrer Verwicklung in das organisierte Verbrechen alles andere als einverstanden. Ihm zufolge scheffelten die Anführer haufenweise Geld durch den Fanartikelhandel und Schmiergelder der Vereine, hauptsächlich in der Form von Tickets, die weiterverkauft wurden. »Die Wertvorstellungen haben sich gewandelt«, erklärte er und machte ein unerwartetes Geständnis: »Ich zum Beispiel mag den Fußball nicht.« Er liebte Flamengo, nicht die jeweilige Mannschaft dieses Namens. Für Cláudio zählte nur Rot und Schwarz.
Cláudio stieg 1987 aus und fing bei der Polizei an, ohne deswegen jedoch zahmer zu werden. Stolz berichtete er: »Bei der Polizei schimpfte man mich einen Kommunisten, weil ich die Streiks organisierte. Drei Mal hat man mich wegen Militanz verhaftet.« Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst zehn Jahre zuvor hatte er die Vaca Atolada erworben, wo sich die progressiven Aktivisten der Stadt trafen. Die antifaschistischen Mitglieder der torcidas aller Vereine Rios fanden sich dort ebenso ein wie Künstler und Politiker. Die 2018 ermordete Regionalpolitikerin Marielle Franco, die sich einen Namen gemacht hatte, als sie die Polizeigewalt aufgedeckt hatte, war eine Freundin Cláudios und Stammgast in der Vaca Atolada gewesen. Zwei Ex-Polizisten waren wegen des Mordes an ihr festgenommen und angeklagt worden, doch zu den Hintermännern der Tat gab es nach wie vor kaum Erkenntnisse.53 Die veränderten politischen Verhältnisse hatten Cláudio zu einer drastischen Maßnahme greifen lassen: Er war aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Der vorherige Boss der Raça war verhaftet worden, weil er einen gegnerischen Fan umgebracht haben sollte, und die Gruppierung war wegen der Gewalt für fünf Jahre aus dem Maracanã verbannt worden. Daraufhin hatte der Vereinspräsident Cláudio gebeten, wieder einzusteigen und als eine Art beratender capo das Chaos zu beseitigen.
Er sagte: »Nach 30 Jahren bin ich zurückgekehrt, um Raça neu zu organisieren. Ich habe ihnen gesagt: ›Wir erneuern Raça von Grund auf, misten völlig aus. Wir schmeißen die Idioten raus. Und sollten am Ende nur 20 Prozent