Unter Ultras. James Montague
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Selbst vor dem entscheidenden Punkt scheute er nicht zurück. Dass Gewalt Spaß bringt. »Ich weiß noch eine Partie gegen Lanus und wie wir auf der Tribüne mit der Polizei gekämpft haben«, erinnerte er sich an sein Lieblingsspiel. »Wir haben sie nach draußen geprügelt, die ganze Treppe hinunter bis auf die Straße. Und wir haben zwei Polizeipistolen erbeutet. Ich sehe das alles noch genau vor mir. Oder wie wir in einem Stadion in Mar del Plata in den River-Block eingedrungen sind und ihre Fahne geklaut haben. Ihre wichtigste und kostbarste Fahne, das Symbol ihrer Identität.«
»Lieben Sie den Fußball nach wie vor?«, wollte ich wissen.
»Ja, natürlich«, gab er prompt zurück. »Ich würde allerdings sagen, dass ich Boca noch mehr liebe als den Fußball an sich. Ich bin verrückt nach Boca. Ich weiß nicht, was ohne Boca aus mir geworden wäre.« Er lachte. »Ich wäre zum Tennis gegangen!« Trotz Stadionverbots war er nicht weit weg vom Geschehen. Die Spieler waren weiterhin seine Kumpel, insbesondere Carlos Tevez. »Wir verstehen uns wirklich hervorragend und sind befreundet. Ich habe ihn schon gekannt, als er noch kein Profi war.«
Bei dem nach Madrid verlegten super-superclásico zwischen Boca und River war Rafa in Buenos Aires geblieben. Es war ohnehin zweifelhaft gewesen, ob man ihn ins Stadion gelassen hätte. Doch bei der Abfahrt des Mannschaftsbusses zum Flughafen hatten Zehntausende hinchas die Spieler mit Raketen und Trommeln verabschiedet. Der Trainer hatte sich mühsam durch die Menge kämpfen müssen. Rafa und Mauro hatten ihm den Weg gebahnt.
Rafa erwartete nicht, dass sein Stadionverbot noch lange Bestand haben würde. Er war inzwischen eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, und das komplizierte alles. »Die Sache hat Vor- und Nachteile«, sagte er. »Nehmen wir die Politiker, Richter, Polizeichefs. Einerseits verdammen sie mich [öffentlich]. Andererseits wollen sie sich mit dir unterhalten, dich kennenlernen, etwas mit dir ausmachen.«
Die Politiker hatten ihn immer gebraucht. Macri hatte ihn gebraucht. Nach Ansicht von La Doce wäre Macri ohne ihre Hilfe nicht Präsident geworden. Später im Jahr standen erneut Präsidentschaftswahlen an, und es zeichnete sich bereits ab, dass Macri verlieren könnte. Rafa war überzeugt, dass es einen neuen Präsidenten und einen neuen Sicherheitsminister geben würde. »Mein Fall ist kein juristisches Problem, er ist ein politisches Problem«, erklärte er. »Am Ende des Jahres, nach dem politischen Umschwung, werde ich wieder im Stadion sein.« Politiker kamen und gingen. Doch Rafa di Zeo und La Doce blieben.
Meine Zeit war um. Das Gespräch hatte eine halbe Stunde gedauert, doch es hatte sich wie eine halbe Minute angefühlt. Auch von Mikael würde ich mich verabschieden. Er wollte noch in Argentinien bleiben und sich ein paar Spiele anschauen, während ich nach Brasilien weiterreisen wollte. »Ich dachte echt, du würdest auf den Krieg zu sprechen kommen«, verriet er mir nach dem Treffen erleichtert. Wir würden uns in Schweden wiedersehen, sagte er, dort würde ich mit eigenen Augen sehen können, dass in Schweden eine der besten Ultra-Szenen der Welt entstanden sei. Und natürlich würde Mikael mein Fremdenführer sein. Als das Interview hinter der Tankstelle offiziell vorbei war, rief Rafa di Zeo einen seiner Männer zu sich und befahl ihm, uns zu unserer Wohnung zurückzufahren. »Um diese Zeit ist es hier in der Gegend gefährlich«, erklärte er beinahe schon väterlich. Unser designierter Chauffeur witzelte, dass er hinten im Wagen genügend Waffen habe, um Las Malvinas im Alleingang zurückzuerobern.
Vor unserem Aufbruch kam es zu einer angespannten Pause, als würde Rafa noch etwas erwarten. Einen Moment lang fürchtete ich, ihn irgendwie beleidigt zu haben. Ich schaute zu Mikael und ließ dann den Blick über den uns umgebenden Ring muskelbepackter hinchas schweifen. Mikael schien unbesorgt. »Wenn ihr noch Fotos machen wollt, nur zu!«, sagte Rafa schließlich vergnügt. Ich kramte nach meinem Handy. Das Angebot kam völlig überraschend. »Als Erinnerung an diesen Moment«, sagte er, als wir unbeholfen nebeneinander posierten und ich ein Selfie knipste. Jeder ließ sich zusammen mit Rafa di Zeo fotografieren: Spieler, Trainer, Weltmeister, korrupte Politiker, Rockstars und Soap-Sternchen. Wieso also nicht auch ich?
3
Brasilien
RIO DE JANEIRO
Ich wartete auf Cláudio Cruz, den Gründer von Raça Rubro-Negro, der größten torcida organizada Brasiliens. Seit einigen Jahren gehörte Cláudio eigentlich nicht mehr zur Szene. Er besaß eine Bar in Lapa, die bereits seit einer Stunde geöffnet hatte, doch von Cláudio keine Spur. Die übrigen Geschäfte und Bars hatten ihre Metallgitter bereits heruntergelassen und verriegelt. Die einzige Ausnahme bildete Vaca Atolada, die »Feststeckende Kuh«.41 So war es an jedem glühend heißen Samstagnachmittag. Lapa lag zwar im Zentrum von Rios Zona Norte, doch in Brasilien funktionierte die sozioökonomische Geografie anders als an anderen Orten. Das Geld versammelte sich an den weißen Sandstränden von Ipanema und Leblon. Das Zentrum war am Wochenende tagsüber wie ausgestorben, was an der Stadtflucht und der hohen Kriminalitätsrate lag. Doch immerhin nachts erwachte Lapa zum Leben. Der Stadtteil hatte einen Ruf als Rios Ausgehviertel, doch 17 Uhr war noch ein bisschen zu früh für die meisten Cariocas. Außer in der Vaca Atolada. Die Angestellten bereiteten alles für die Sambaband am späteren Abend vor und räumten die zu Tischen und Stühlen zweckentfremdeten Bierkästen auf den Gehsteig. Ein Barmann meinte, ich könne warten, stellte eine eisgekühlte Literflasche Brahma-Bier vor mich auf den Tisch und öffnete sie einhändig in einer fließenden Bewegung. Cláudio komme immer zu spät, erklärte er.
Die Vaca Atolada war ein Überbleibsel von Rios aussterbender Bohème-Szene. Drinnen an den Wänden hingen überall alte Konzertflyer. Die Toiletten waren mit altmodischen, pornografisch angehauchten Graffiti verziert, die irgendjemand einmal abzuschrubben versucht hatte. Die Partytouristen steuerten gewöhnlich die schickeren Cocktailbars einige Blocks die Straße herunter an. Doch wer Lapa kannte, kannte die Vaca Atolada – und Cláudio. Ihm gefiel seine Rolle: ein sperriges Relikt, das beharrlich seinen Platz verteidigte.
Wenn Cláudio eintrifft, gleicht das mehr einem Überfall als einer Begrüßung. Energisch schüttelte er mir die Hand, während es schon aus ihm heraussprudelte: »Als ich noch Polizist war, habe ich von einer Bar geträumt, wo man für wenig Geld trinken gehen kann.«. Er ließ sich nieder und ruckelte seinen Bierkasten zurecht, bis er mir gegenübersaß. Er habe nicht viel Zeit, sagte er. Die Musiker würden gleich zum Soundcheck kommen. Doch schließlich blieb er zweieinhalb Stunden und redete beinahe ununterbrochen. Er platzierte sich genau eine Armlänge vor mir, und während er die Worte im Maschinengewehrtempo ausstieß, kam es mir beinahe so vor, als würde er gleichzeitig mit mir Schattenboxen. Wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, pochte er im Takt mit den Knöcheln auf den Tisch oder stieß mir gegen die Brust. Er bekannte, er sei doente por Flamengo: »verrückt« nach dem Clube de Regatos do Flamengo, einen von Rios größten Vereinen. Mit demselben Begriff – doente – bezeichnete er immer wieder auch andere Fans. Als wäre es ein Ehrenzeichen für eine außergewöhnliche Flamengo-Leidenschaft.
Die Anfänge der brasilianischen torcidas gehen auf die organisierten Fanclubs zurück, die sich um 1940 rund um die Vereine aus Rio und São Paolo bildeten. Sie gewannen rasch an Beliebtheit und begannen ihre Mannschaften auf bis dahin unbekannte Weise zu unterstützen, zumeist angeführt von einer Sambaband, doch auch mit Bannern, Feuerwerkskörpern und Gesängen. Wie bei den argentinischen barras bravas nahm auch bei den brasilianischen torcidas die Gewalt mit der Zeit immer extremere Ausmaße an. Seit den 1980er-Jahren starben Hunderte Fans bei Schlägereien und internen Kämpfen. Allein 2013 wurden 30 torcedores umgebracht.42 Die Mordrate in Brasilien zählt ohnehin zu den höchsten weltweit; so wurden 2018 rund 50.000 Mordopfer