3:2 - Deutschland ist Weltmeister. Fritz Walter
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»Du wirst sehen, morgen stellt sich heraus, dass wir alles bloß geträumt haben!«
»Aber ich bin doch hellwach!« schreit Helmut so laut, dass ich erschrocken hochfahre. Mit beiden Beinen strampelt er seine Decke weg, springt aus dem Bett, schlägt einen Salto und liegt auch schon wieder in den Federn.
»Siehst du, ich träum’ doch nicht, Fritz! Wir haben wirklich die Ungarn weggeputzt!«
Schade – jetzt ist Schluss mit der Tanzmusik. Auf meinem Apparat bring’ ich nichts mehr her. Es ist sechs Uhr morgens.
»Vielleicht können wir doch noch ein bisschen schlafen«, gähne ich, und tatsächlich fallen uns vor Übermüdung die Augen zu. Plötzlich bin ich wieder wach. Ich greife nach der Uhr. Es ist sieben. Auch der stabile Helmut Rahn starrt schon wieder die Decke an. Vergeblich versuchen wir eine Viertelstunde lang, nochmals einzuschlafen. Es ist aussichtslos.
»Sieh mal raus, was für Wetter ist! Am besten machen wir einen Kopfsprung in den Thuner See.«
»Nichts zu wollen, Fritz draußen ist es trostlos!« Und weil der »Boss«, wie Helmut Rahn bei uns heißt, nun schon auf dem Balkon steht, gibt er an diesem letzten Morgen in Spiez noch einmal mit voller Lautstärke seine Essener Marktfrau zum besten:
Prima schnittfeste Tomaten, Leut’!
Die prima Oma-Lutsch-Birnen für zahnlose Großmütter!
1 a Rotkohl, Weißkohl, Wirsing, Spinat!
Wenn keiner kommt, dann leckt mich am …
Leute, ich bin das Leben leid, heut wird die Ware verschenkt!
Aaa sch—on wieder einer da!
Prima schnittfeste Tomaten!
Ich liege im Bett und lache, lache, bis mir die Tränen kommen.
Wie oft hab ich mich während der drei Wochen in der Schweiz über den Boss und seine urwüchsigen, jungenhaften Kraftausbrüche gefreut! Schmerzlich durchfährt mich der Gedanke, dass es nun bald aus ist mit dem kameradschaftlichen Zusammensein. Aus mit den unvergesslichen Tagen, die uns menschlich einander so nahe gebracht haben.
Als wir im Frühstückszimmer Platz nehmen, sind die meisten anderen schon da, nicht nur die Frühaufsteher. Niemand hat richtig schlafen können in dieser Nacht. Der Toni, der Max, der Jupp – sie alle sind von ihren Gedanken bestürmt worden und von ihren Erinnerungen. Ist das nicht ganz natürlich? Haben wir denn überhaupt schon begriffen, was in diesen Tagen und Wochen geschehen ist?
Wir sind Fußball-Weltmeister 1954!
Spreu oder Weizen?
»Wenn ihr nicht besser spielt, braucht ihr erst gar nicht in die Schweiz zu fahren!«
So scharf schießen 1953 unsere Kritiker. Leider nicht ganz zu Unrecht. Bei den Ausscheidungsspielen, die wir zu absolvieren haben, sind die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft alles andere als eindrucksvoll. Ehrlich gesagt, denke ich nur ungern an die zermürbenden Vorpostengefechte zurück, die uns den Weg in die Schweiz frei machen.
36 Länder haben sich zur Teilnahme an der V. Weltmeisterschaft der FIFA, des Internationalen Fußballverbandes, gemeldet. Nur sechzehn Mannschaften aber sollen nach dem Plan des Organisationskomitees in der Schweiz um die höchste Fußballtrophäe, den Coupe Rimet, kämpfen. Es muss also vorgesiebt werden. Die 36 Konkurrenten teilt man in dreizehn Qualifikationsgruppen ein, deren jeweiliger Sieger die Fahrkarte in die Schweiz erhält. Nur bei der Gruppe III (England, Schottland, Irland, Wales), die traditionsgemäß für besonders stark gehalten wird, darf auch der Zweite mitfahren. Auf diese Weise sollen die vierzehn Besten ermittelt werden. Zwei Teilnehmer stehen von Anfang an fest: Uruguay als Titelverteidiger und die Schweiz als Gastgeber.
»Ich möchte wetten, dass wir mit dem Saarland in eine Gruppe kommen!« sage ich zu Bundestrainer Herberger. Die Wette hätte ich glatt gewonnen: die Organisatoren der Weltmeisterschaft stecken uns zusammen mit der Saar und Norwegen in die Ausscheidungsgruppe I.
»So ein Dusel!« frohlocken die Optimisten. Ich habe über die »leichte« Gruppe I meine eigene Meinung. Noch in jedem Länderspiel ist die Saarmannschaft über sich selbst hinausgewachsen. Obwohl sie praktisch nur aus Spielern des 1. FC Saarbrücken besteht, wäre es kurzsichtig, ihre Leistungen wie die einer Vereinsmannschaft einzuschätzen. Zumal Helmut Schön, der Trainer des Saarländischen Fußballverbandes, seine Elf seit Monaten intensiv auf die Ausscheidungsspiele zur Weltmeisterschaft vorbereitete. Und Norwegen? Es ist seit eh und je unser Angstgegner, der uns 1936 beim Olympischen Fußballturnier in Berlin mit Pauken und Trompeten ausgebootet hat.
Trotzdem ist Deutschland in Gruppe I eindeutiger Favorit. Die Saar und Norwegen haben als Außenseiter nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen.
»Ihr müsst es schaffen! Ihr müsst es schaffen!« Wie uns dieser Imperativ, dieses leichthin gesagte »muss« im Magen liegt!
Am 18. Juli 1953 bringt der Postbote den erwarteten Brief mit dem Absender »Seppl Herberger, Hohensachsen an der Bergstraße«. Jeder, der für ein Länderspiel vorgesehen ist, wird vom Bundestrainer benachrichtigt:
»Liebe Kameraden!
Die neue Spielzeit ruft. Für unsere Nationalmannschaft setzt sie gleich mit vollen Akkorden ein. Am 19. August spielen wir in Oslo gegen Norwegen. Es geht um die Teilnahme an der Weltmeisterschaft …«
Allen Empfängern legt der »Chef«, wie wir Herberger unter uns nennen, nahe, sich durch die Vereinsspiele und entsprechendes Training in gute Kondition zu bringen. Ihm bleibt nichts anderes übrig als dieser erste Appell an das sportliche Gewissen jedes einzelnen. Bedingt durch die Verhältnisse im deutschen Fußball können wir uns immer nur wenige Tage vor einem Länderspiel treffen. Es ist klar, dass wir deshalb die nötige Form schon mitbringen müssen. Jedem seiner Pappenheimer schreibt der Chef noch ein paar spezielle Worte. Er weist auf individuelle Schwächen hin und gibt zugleich Ratschläge, wie sie am besten zu beheben sind.
Gleichzeitig kommt der offizielle Bescheid von der Geschäftsstelle des DFB, des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt. Demnach gehöre ich zur vorgesehenen Mannschaft gegen Norwegen, die sich vor dem Abflug in Malente, der Sportschule des Schleswig-Holsteinischen Fußballverbandes, trifft.
Am 19. August 1953 spielen wir im Osloer »Ulleval«-Stadion gegen die Norweger. Sie stehen bereits mitten in ihrer Fußballsaison, haben die Höchstform erreicht und sind überraschend stark. Unser letztes Länderspiel war vor fünf Monaten. Wir sind zudem durch die unmittelbar zurückliegende Sommerpause aus dem Tritt geraten. Obwohl wir in der Besetzung: Turek; Retter, Kohlmeyer; Eckel, Posipal, Schanko; Rahn, Morlock, O. Walter, F. Walter, Schäfer antreten, kommen wir gegen die Skandinavier nicht zum Zug. Kurz vor der Halbzeit wird Schäfer verletzt und durch Pfaff ersetzt. Der 21-jährige norwegische Torwart Asbjörn Hansen hält die schwierigsten Schüsse. Nur ein einziges Mal lässt er den Ball passieren. Dieses Tor, von mir geschossen, bringt uns den 1:1-Ausgleich, und wir müssen froh sein, mit dem Unentschieden wenigstens einen Punkt gerettet zu haben. Ziemlich belämmert ziehen wir ab. Deutschlands Fußballfreunde und wir selbst sind keineswegs mit unserer Leistung zufrieden, zumal die Saar im Juli Norwegen auf demselben Platz 3:2 geschlagen hat. Die Sorgenfalten auf der Stirn unseres Chefs wollen nicht mehr verschwinden.
Als wir nach dem Rückflug