3:2 - Deutschland ist Weltmeister. Fritz Walter
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Normalerweise stehen wir um halb acht Uhr auf, frühstücken gemeinsam und gehen anschließend in den Lehrsaal zum theoretischen Unterricht.
Wir diskutieren über Stärken und Schwächen anderer Mannschaften, in erster Linie aber kehren wir selbstverständlich vor unserer eigenen Tür und beraten, wie die harmonische Zusammenarbeit der deutschen Nationalelf noch verbessert werden kann.
Zweimal sehen wir den Film vom 3:6-Spiel England – Ungarn in London, bei dem die Briten bekanntlich erstmalig in ihrer Fußballgeschichte auf eigenem Boden geschlagen wurden. Während der Vorführung weist uns Herberger auf alle taktischen Finessen hin, besonders aber auf die Tatsache, mit der die Engländer bei diesem Spiel und beim 7:1-Rückspiel in Budapest nie fertig geworden sind: Hidegkuti als ungarischer Mittelstürmer pendelt zurückgezogen weit hinten und lauert nicht stur vorn wie ein englischer Centerfor. Obwohl der Kommentator des Films englisch spricht, kennen wir ihm die Verwunderung darüber deutlich an.
»Schauen Sie, Jupp«, sagt Herberger zu Posipal, »wo der Hidegkuti ’rumläuft! Der englische Stopper bleibt jetzt da hinten, statt ihm wie ein Schatten zu folgen oder wenigstens einen Außenläufer zur Deckung hinzuschicken.«
»Und das, meine Freunde, ist der berühmte Major Puskas!«
Wir wissen, dass wir bei der Weltmeisterschaft einmal mit ihm zusammentreffen werden, denn Ungarn gehört wie wir, die Türkei und Südkorea zur Gruppe II. Die sechzehn Teilnehmer, die sich für die Schweiz qualifiziert haben, sind inzwischen für das Achtelfinale in vier Gruppen eingeteilt worden.
Gruppe I:Brasilien, Frankreich, Jugoslawien, Mexiko
Gruppe II:Ungarn, Türkei, Deutschland, Südkorea
Gruppe III:Uruguay, Österreich, Tschechoslowakei, Schottland
Gruppe IV:England, Italien, Schweiz, Belgien
Von jeder dieser Gruppen kommen zwei Länder eine Runde weiter, und zwei müssen ausscheiden. Natürlich sollen die Besten aufrücken. Um sie zu ermitteln, müsste gerechterweise jeder gegen jeden antreten. Eine solche Regelung würde zu viele Spiele erfordern. Man muss deshalb einen Ausweg finden. Die in der obenstehenden Gruppeneinteilung kursiv gedruckten Länder werden »gesetzt«. Man hält sie mit mehr oder weniger Berechtigung für stärker als die anderen und billigt ihnen gewisse Vorteile zu: Sie brauchen nicht untereinander, sondern nur gegen die Nichtgesetzten, d. h. die für schwächer Gehaltenen ihrer Gruppe, zu spielen.
Eine ideale Lösung? Es gibt keine ideale Lösung, wenn nicht jeder gegen jeden spielt. Die Gruppe II mit Deutschland ist ein Musterbeispiel dafür. Wir können uns ganz gut ausrechnen, wie die Geschichte wahrscheinlich läuft:
Gruppenfavorit Ungarn spielt gegen Deutschland und Südkorea – das ergibt vier Punkte und bringt den Magyaren den Eintritt vom Achtel- ins Viertelfinale. Die Türkei, die an die Stelle des voreilig »gesetzten« Spanien gerückt ist (die Spanier sind nach zweimaliger Verlängerung im Entscheidungsspiel gegen die Türken durch Losentscheid unterlegen), spielt gegen Südkorea und gegen Deutschland. Man kann annehmen, dass sie gegen den Punktelieferanten Korea gewinnt, und hoffen, dass sie gegen Deutschland verliert. Das macht 2:2 Punkte. Da Deutschland in diesem angenommenen Fall dasselbe Punkteverhältnis hat (Sieg gegen die Türkei, Niederlage gegen Ungarn), muss es mit der Türkei ein Entscheidungsspiel austragen. Der Sieger kommt als Zweiter der Gruppe II ins Viertelfinale.
Mit soviel FIFA-Steinen ist also der Weg gepflastert, der uns mit Ferenc Puskas, den wir jetzt in der Sportschule Grünwald noch auf der Filmleinwand sehen, in der Schweiz zusammenführen wird.
Training mit und ohne Ball
Theorie allein macht keinen Fußballspieler. Deshalb geht es nach dem Unterricht gleich raus zum Training, das hart, aber abwechslungsreich ist. Zum ersten Mal treiben wir in ausgedehnter Form Laufarbeit. Wir teilen uns in verschiedene Gruppen, fünf oder sechs Stürmer, ein paar Läufer, die Verteidiger und die Torwächter. So laufen wir uns über drei, vier Runden ein, um die Muskulatur gut durchzuwärmen und Zerrungen und Muskelrisse zu vermeiden. Dann erst legen wir – immer noch gruppenweise – richtig los. Langsam anlaufen! Bei fünfzig Meter durchstarten bis zu hundert Meter! In den Kurven bummeln wir, werden wieder ein wenig schneller und treten noch mal fünfzig Meter durch.
Das machen wir mindestens eine Stunde lang: spurten, langsamer werden, drüben auf der Gegengeraden wieder spurten, zehn Meter auslaufen, wieder spurten! Wenn die Stunde um ist, sind wir ganz schön in Schweiß gebadet und wissen, was wir getan haben. Max Morlock nimmt das Training so ernst, dass er sich in Grünwald acht Pfund Speck herunterarbeitet.
Alfred Pfaff, dem die Puste nie ausgeht, nutzt die kleine Pause zu einem seiner lebensgefährlichen Kalauer:
»Kinder, wisst ihr, warum der Eber so traurig durch den Wald läuft?«
»Nee!«
»Weil seine Frau eine Wildsau ist!«
»Au!«
Lachend geht es wieder auf die Bahn. So trainieren wir jeden Vormittag gründlich, oft auch zusätzlich eine Stunde vor dem Frühstück.
Das Lauftraining auf der Aschenbahn genügt natürlich nicht.
Regelmäßig arbeiten wir mit dem Ball. Die Stürmer spielen gegen die Hintermannschaft, drei Mann gegen einen, vier gegen zwei oder, über den ganzen Platz hinweg, fünf gegen fünf oder sechs gegen sechs. Zwischendurch spielen wir Fußball-Tennis. Dazu wird ein Feld abgegrenzt und durch eine in beliebiger Höhe gespannte Schnur zweigeteilt. Ein gewöhnlicher Fußball wird über die Schnur hin- und hergetreten oder -geköpft, er darf in jedem Feld einmal springen, nie über die Spielfeldgrenze rollen, unter der Schnur durchgehen oder sie berühren. Wenn eine Mannschaft zehn Pluspunkte hat, wird gewechselt, bei 21 Punkten auf einer Seite ist das Match beendet.
Auch Korbball-Mannschaften gehören zu unserem »spielerischen« Training, bei dem man gar nicht merkt, wie viel man läuft – eine vortreffliche Ergänzung zur systematisch betriebenen Laufarbeit.
Auf der schönen Grünwalder Kegelbahn schiebt der Sturm manche Kugel gegen die Hintermannschaft. Oder wir kegeln in Stubenbesetzung gegeneinander. Helmut Rahn, der mit mir auf einem Zimmer wohnt, wirft einen Kranz und holt für uns die Meisterschaft. Siegespreise sind zwei Bücher mit einer Widmung von Herberger. Der Boss verzichtet aus freien Stücken auf sein Buch »08/15«, das ich als alter Landser zweifellos besser verkraften kann als er.
Ein paarmal fahren wir hinein nach München, um ins Kino zu gehen. Es ist wie verhext: Jede Wochenschau endet mit Ausschnitten aus dem 1:5-Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Nichts bleibt uns erspart. Nach dreimaligem Kinobesuch haben wir Kaiserslauterer 3x5 = 15 Tore von Hannover einstecken müssen.
Herberger ist in all den Tagen ein vorbildlicher, idealer Kamerad. Er kennt jeden einzelnen mit seinen Fehlern und seinen guten Seiten. Er weiß genau, mit wem er mal ein bisschen lauter reden muss, und wem er am besten in Ruhe zuspricht. Wenn ihn ein besonderes Anliegen drückt, schnappt er sich den einen oder anderen, auch mal zwei oder drei, und bespricht auf einem Spaziergang, was er auf dem Herzen hat.
Große Aufmerksamkeit müssen wir unserem Speisezettel widmen. Jeder weiß ohnehin schon längst, wie viel er essen darf. Horst Eckel zum Beispiel kann Riesenportionen verschlingen, ohne dass es bei ihm anschlägt. Ich dagegen hab’ seit Jahren Schwierigkeiten mit meinem Gewicht; ich darf keine Suppe essen, keine Kartoffeln, kein Schweinefleisch