Ruth Gattiker. Denise Schmid
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Für Gerhard, Vera und Andrea
Inhalt
Aufruhr um die erste Herztransplantation 1969
Das Fernweh und die Ferienhäuser
«Time present and time past are both perhaps present in time future and time future contained in time past.»
T. S. Eliot
Vorwort
November 2014
Ein kalter, unfreundlicher Tag, draussen dunkelt es schon um 17 Uhr ein. Ich muss ein Buch holen in der Zentralbibliothek Zürich. Im Erdgeschoss, wo sich die Computer zur Recherche aneinanderreihen, entdecke ich einen mir bekannten weisshaarigen Kopf: Ruth Gattiker, Professorin für Herzanästhesie, 91 Jahre alt. Was macht sie hier? Ich gehe zu ihr hin. Sie sitzt vor einem Bildschirm, neben ihr liegen ein aufgeschlagenes Wörterbuch, mehrere Blätter Papier. «Guten Abend, Frau Gattiker.» Sie schreckt leicht auf, stutzt, erkennt mich: «Ah, grüezi Frau Schmid.» Ich frage, ob sie an etwas arbeite. «Nein, nein, ich mache Hausaufgaben, habe heute Abend noch Griechischunterricht oben an der Uni.»
Das ist Ruth Gattiker, besucht Altgriechischkurse mit über 90 Jahren. Sie wohnt in Davos, reist zwei- bis dreimal pro Woche mit dem Zug nach Zürich, geht ins Konzert, in die Oper oder eben an die Universität. Sie fährt noch Auto, geht jeden Tag ein bis zwei Stunden spazieren und scheint mir geistig und körperlich mindestens so fit wie ich mit meinen fast 50 Jahren. Nur das Gehör funktioniert nicht mehr optimal. Ab und zu muss sie nachfragen, und sie trägt ein Hörgerät. Doch das Erstaunliche an dieser Frau sind nicht nur ihre beneidenswert guten Gene. Erstaunlich ist, was sie aus ihren Gaben in diesen 91 Jahren gemacht hat, wie sie unbeeindruckt von Vorurteilen und gesellschaftlichen Normen, die für eine 1923 geborene Frau galten, ihren Weg gegangen ist und ihre Intelligenz, ihre Energie und die vielseitigen Begabungen genutzt hat und immer noch nutzt.
Januar 2015
Ich bin in Davos. Gestern habe ich sie angerufen und gefragt, ob sie Lust hätte, mit mir heute zu Mittag zu essen. «Ja, wieso nicht. Ich gehe am Nachmittag eine Bekannte auf dem Wolfgangpass besuchen. Wir können uns vorher treffen. Wo?» «Im Chesa im Hotel Seehof?» «Ja, das ist gut.» «Soll ich sie abholen, Frau Gattiker?» Sie wohnt am Eingang des Dischmatals in der Siedlung Büelen in ihrem früheren Ferienhaus. Ich war einmal dort.
«Nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig.» Sie weist das Angebot leicht entrüstet zurück. Das ist etwas, was ich mit der Zeit lernen werde. Sie mag es nicht, wenn man ihr etwas nicht zutraut oder sie wie eine hilfsbedürftige ältere Dame behandelt. Alles, nur das nicht.
Wir treffen gleichzeitig um halb eins vor dem Restaurant ein. Sie beäugt kritisch den Steinboden im Eingangsbereich des Restaurants Chesa. «Ist das Stein? Dann muss ich meine Bergschuhe wegen der Eisen ausziehen.» Sie schnallt ihren kleinen Rucksack ab, packt ein paar leichtere Winterschuhe aus; mit der Hand auf einen Tisch abgestützt, bückt sie sich und wechselt auf einem Bein stehend ihre Schuhe. Nein, nein, sie braucht natürlich keine Hilfe, und die Schuhe mit den Eisen hatte sie nur an, weil sie vom Dischmatal zum Restaurant zu Fuss gegangen ist. Eine gute halbe Stunde. «Ich muss ja jeden Tagen gehen, das ist wichtig», sagt sie.
Ruth Gattiker ist ausserordentlich in vielerlei Hinsicht, mag es aber nicht, wenn man das erwähnt. Beim Mittagessen im Restaurant Chesa schlage ich ihr das erste Mal vor, dass wir zusammen ihre Lebensgeschichte aufschreiben könnten.
«Dumms Züüg, wer würdi das läse?», lautet die spontane erste Reaktion. Ich habe diesen Satz schon einmal gehört. Wir kennen uns, weil ich ein Jahr zuvor ein kurzes Porträt über sie und ihr Leben verfasst habe, nachdem ich sie bei einem Abendessen an der Universität kennengelernt hatte. Ihre burschikose, resolute Art und wie sie aus ihrem Leben erzählte, interessierten mich sofort.
Ruth Gattiker gehört zusammen mit anderen zu den Pionieren der Entwicklung der Herzchirurgie in den 1950er- und 1960er-Jahren. Aufgewachsen in einer Mittelstandsfamilie in Zürich Oerlikon mit Eltern, die sich für ihre beiden Töchter ein Leben als Hausfrau und Mutter vorstellten, war ihr Weg alles andere als vorgezeichnet. Gattiker ist als Kind ein widerspenstiger Rotschopf, der sich nicht davor scheut, mit dem autoritären Vater zu streiten. Sie träumt schon als Teenager von einem akademischen Beruf, möchte keine Kinder und unabhängig sein. Über Umwege – wie das dreimalige Ablegen der Matura, bis sie endlich Medizin studieren darf – wird sie Ärztin und spezialisiert sich auf Anästhesie. Als der renommierte Herzchirurg Åke Senning 1961 nach Zürich geholt wird, gibt das ihrem Weg eine neue Wende. 1963 verbringt sie ein Jahr an der Mayo-Klinik in den USA und macht danach mit ihrem VW Käfer für zwei Monate eine Tour zu den wichtigsten Herzkliniken. 1964 ist sie bei der ersten Nierentransplantation in Zürich mit dabei, 1969 bei der ersten Herztransplantation. Da steht längst fest, dass sie eine akademische Karriere einschlagen will. Ihre Habilitationsschrift erscheint 1971 und ist über viele Jahre das Standardwerk zum Thema Herzanästhesie im deutschsprachigen Raum. 1976 wird sie zur Titularprofessorin ernannt und 1986 pensioniert. Und obwohl