Ruth Gattiker. Denise Schmid
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ruth Gattiker - Denise Schmid страница 3
Mit der Zeit entdecke ich neben ihrer grossen Energie aber auch noch andere Seiten, dass sie ein ausgeprägter Morgenmensch ist und abends mitunter etwas misslaunig werden kann. Einmal ruft sie mich am Abend, bevor ich zu ihr kommen soll, an und verkündet resolut, dass sie morgen kaum Zeit für mich haben werde. Man habe ihr vor einigen Tagen das Portemonnaie gestohlen, und sie habe deshalb noch so viel zu erledigen. Eine Stunde höchstens habe sie Zeit für mich, und die Unterlagen, nach denen ich gefragt hätte, habe sie auch noch nicht raussuchen können. Sie klingt gestresst. Als ich am nächsten Vormittag bei ihr auftauche, darauf gefasst, dass ich bald wieder gehen muss, empfängt sie mich freundlich und führt mich in die erste Etage ins Zimmer von Marie Lüscher. Dort auf dem Bett hat sie ihre Schätze ausgebreitet: die Aufzeichnungen zu ihren Reisen seit den 1950er-Jahren und die Tagebücher, die sie ab 1981 geführt hat. Dazu eine Schachtel mit Fotografien und Dokumenten. Ich soll doch einfach alles mitnehmen, meint sie. Ich bin überrascht und überwältigt von diesem unerwarteten, schönen Vertrauensbeweis. Anschliessend sitzen wir in ihrem hellen Wohnzimmer mit dem grossen schwarzen Flügel und reden noch fast drei Stunden. Dann hilft sie mir, das Material im Auto zu verstauen. Sie kann ebenso kantig und abweisend wie grosszügig und warmherzig sein. Ich erlebe beide Seiten, und das tut der Bewunderung für diese eigenwillige Persönlichkeit keinen Abbruch, im Gegenteil. Wäre sie immer nett, freundlich und unverbindlich gewesen, hätte sie eine solche Karriere machen können?
Von ihren über 90 Lebensjahren verbringt die 1923 Geborene die ersten 29 Jahre mit Schule und Studium bis zum Staatsexamen 1952, anschliessend 34 Jahre im Beruf. Und heute, wenn ich dies schreibe, ist sie 30 Jahre pensioniert, wovon sie noch elf Jahre mit einem Zweitstudium in Musikwissenschaften und Philosophie verbracht hat. Ruth Gattikers Leben lässt sich grob in Drittel teilen, ganz unterschiedliche Drittel, die doch alle ineinandergreifen. Die grossen Linien waren von Anbeginn da und sind bis heute in jedem Gespräch mit ihr spürbar: die unstillbare intellektuelle Neugier, der zähe Wille, Wachsamkeit, viel Energie und sehr viel Selbstdisziplin. Und ihre direkte, unverblümte Art, der trockene Humor, Bescheidenheit und ein leidenschaftliches, erzählerisches Talent, das Gespür für eine interessante Geschichte.
Kapitel 1
Aufruhr um die erste Herztransplantation 1969
Man will, man muss es mal versuchen
«Ruth, wärst du bereit für eine Herztransplantation?» Professor Åke Senning spricht die Oberärztin für Herzanästhesie Ruth Gattiker auf dem Flur des Operationstrakts an. Er steht dort mit dem Direktor für Neurochirurgie, Prof. Hugo Krayenbühl. Mit der Frage meinte er, ob sie bereit wäre, die Narkose zu machen, während er die Operation durchführen würde. Senning ist Herzchirurg, ein gross gewachsener, eleganter Schwede, Mitte 50 und seit acht Jahren Direktor der Chirurgischen Klinik A des Kantonsspitals Zürich. Es ist Montag, der 14. April 1969, gegen halb zehn Uhr morgens, und Ruth Gattiker kommt eben aus dem Pausenraum, im Schlepptau den schwedischen Journalisten Bernt Bernholm, hohe Stirn, Hornbrille, sympathisch und aufgeschlossen. Der Tag hat früh begonnen. Senning hat die Anästhesistin morgens nach sieben Uhr gebeten, Bernholm unter ihre Fittiche zu nehmen. Dieser wolle einen Tag in der Herzchirurgie verbringen, überall zusehen. Er sei der beste Medizinjournalist, den er kenne, hat Senning für ihn geworben. Er und Bernholm sind Jugendfreunde. Sie haben früher in Schweden zusammen Fussball gespielt.
Ruth Gattiker ist überrascht über die unvermittelte Frage. Das Thema Herztransplantation liegt zwar in der Luft, seit Christiaan Barnard eineinhalb Jahre zuvor in Kapstadt ein Herz verpflanzt hat, und im Experimentallabor des Kantonsspitals forscht man auch zu diesem Thema, aber jetzt, so plötzlich an diesem Montagmorgen? Der Grund ist einfach, man hat endlich einen Spender für einen der beiden möglichen Empfänger, die darauf warten. Der Neurochirurg Krayenbühl hat eben ein hirntotes Unfallopfer mit der Blutgruppe A positiv für die Entnahme des Herzens freigegeben.1 Der Tag der ersten Herztransplantation in der Schweiz ist da, und der schwedische Journalist Bernholm hat damit unverhofft den Jackpot für seine Recherche geknackt.
Die Anästhesistin, 46 Jahre alt, gross, schlank, mit rotbraun gewelltem Haar, seit zwölf Jahren am Kantonsspital tätig, hat an diesem Morgen schon eine Anästhesie für eine Herzoperation gemacht. Es war ein kleinerer Eingriff. Ruth Gattiker weiss im Rückblick nur noch, dass alles glattging und sie die weitere Überwachung des Patienten einem Assistenzarzt und den Schwestern überlassen kann. Nach getaner Arbeit gönnt sie sich in ihrer grünen OP-Bekleidung in dem kleinen Pausenraum des Operationstrakts zusammen mit Kollegen und dem Journalisten einen Kaffee. Senning winkt sie zu sich, als sie den Raum verlässt. Er und Krayenbühl erklären ihr kurz die Situation.
Der Herzspender ist ein 27-jähriger Hilfsarbeiter und Hobby-Privatdetektiv aus Lachen, der zwei Tage zuvor durch ein Glasdach gefallen und bewusstlos, mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen ins Kantonsspital eingewiesen worden ist. Die Messung der Hirnaktivitäten mittels EEG (Elektroenzephalografie) hat schon am Sonntag nur noch einen Strich auf dem Bildschirm gezeigt, obwohl der Patient noch selbstständig atmete. Die erneute Messung am Montagmorgen hat wieder das gleiche Resultat gezeigt: keinerlei Hirnaktivität. Und um sieben Uhr hat die Atmung ausgesetzt, deshalb hat man ihn an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Für den Neurochirurgen Krayenbühl ist der Fall klar: Der Patient ist hirntot. Klare Vorschriften oder Regeln bezüglich Einwilligung der Angehörigen gibt es damals genauso wenig wie offizielle Kriterien zur genauen Definition des Todes. Der Operation steht nichts im Weg.
Obwohl man vermutet, dass genetische Ähnlichkeiten zwischen Spender und Empfänger zu einer Verringerung der Abstossungsgefahr beitragen, kann man die sogenannte Leukozytentypisierung nicht durchführen. Alle dazu qualifizierten Leute sind am Kongress für experimentelle Chirurgie in Davos.2 Aber eine gesicherte Erkenntnis ist das mit der Leukozytentypisierung nicht. Man weiss so oder so noch vieles nicht zum Thema Abstossung, hat aber dank den Nierentransplantationen, die man seit fünf Jahren regelmässig macht, doch schon etwas Erfahrung mit dem Thema. Man will, man muss es mal versuchen. Am Mittag soll es losgehen.
Ein weltweites Wettrennen
Seit längerer Zeit warten in Zürich zwei Patienten mit Blutgruppe A positiv auf ein Spenderherz. Aber von einer Warteliste zu sprechen, wäre übertrieben, denn ein Herz hat man in der Schweiz bislang nicht transplantiert. Seit der ersten Transplantation in Südafrika im Dezember 1967 ist weltweit eine Art Wettrennen in Gange. Schon ein knappes Jahr nach Barnards erstem Versuch sind 60 Herztransplantationen dokumentiert, und Senning transplantiert im April 1969 das 126. Herz. Die Mehrzahl der Eingriffe wird in den USA durchgeführt, aber einige auch weltweit, von Buenos Aires, Bombay und Montpellier bis London und Montreal.3 Auch Åke Senning als einer der führenden Herzchirurgen der Zeit ist dem Experiment gegenüber nicht abgeneigt. Und eine Art Experiment ist es damals, denn die Operation an sich ist für einen guten Chirurgen nicht schwierig, aber es fehlen noch die richtigen Medikamente, um die Abstossung des fremden Herzens längerfristig zu verhindern.
Senning hat im Januar 1968 einen seiner Oberärzte, Felix Largiadèr, nach Kapstadt zu Barnard gesandt. Da hat dieser gerade das zweite Herz verpflanzt. Der erste Patient überlebt 18 Tage, der zweite 19 Monate. Largiadèr schreibt in seinem Buch