Ruth Gattiker. Denise Schmid
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Als sie um zwei Uhr den Bus Richtung Wolfgang nimmt, kann ich noch nicht einschätzen, wie es weitergehen wird. Ich habe vorläufig auch gar keine Zeit für dieses Projekt, nur Lust darauf. Als der Bus weg ist, fällt mir ein Satz ein, den sie gegen Ende unseres Treffens gesagt hat: «Wissen Sie, ich will nicht sterben, ich lebe so gerne.» Rührt daher diese gewisse Scheu? – Sich auf ein Buch einzulassen, das eine letzte Seite haben wird?
Mai 2015
Tagelang hat es in Zürich geregnet. Überschwemmungsfrühling. Ich fahre nach Davos, wo mich ein strahlender Bergfrühlingstag empfängt; blühende Magerwiesen, weisse Berggipfel, dunkelblauer Himmel. Schöner kann es nicht sein. Ich bin mit ihr verabredet. Am Telefon habe ich berichtet, dass ein Verlag an ihrer Lebensgeschichte interessiert sei. Ich habe ein kleines Konzept geschrieben, der Verlag hat eine Vorkalkulation gemacht. Diese Papiere sind in meiner Tasche, als ich hinauffahre zur Siedlung Büelen, dazu das Verlagsprogramm und zwei Bücher, die ich geschrieben beziehungsweise mitgeschrieben habe. Werbung in eigener Sache, wir kennen uns noch nicht gut. Am Telefon klang Ruth Gattiker freundlich, lud mich zum Kaffee ein, kein Widerstand, als ich sagte, es gehe um ihre Biografie. Ich mache mir Hoffnungen. Um punkt drei Uhr klingle ich an der Tür ihres Hauses. Sie öffnet. Ihre mittelgrosse, hagere, leicht gebückte Gestalt. Sie wirkt aufgeräumt und vital, heisst mich willkommen, geht voraus in die Küche, lässt einen Kaffee für sich und einen Espresso für mich aus der Maschine. Ich stehe neben der Küchentür, betrachte einige der Bilder im Wohnzimmer. Der Vater ihrer Freundin Marie Lüscher, die dieses Ferienhaus mit ihr gebaut hat, war Maler. Die Bilder sind vom ihm, sagt sie. Eines gefällt mir besonders gut. Das Porträt der vielleicht achtjährigen Marie im roten Pullover. Ihr klares, kluges Kindergesicht, dunkle Augen, dunkles Haar, ernst und konzentriert schaut sie in die Ferne, noch so jung, wirkt sie bereits wie eine kleine Persönlichkeit. Mit zärtlicher Bewunderung hat der Vater sein Kind gemalt.
Wir setzen uns auf Ruth Gattikers sonnige Veranda, wo sie am Korrekturlesen der Programmtexte für das alljährliche Davos Festival im Sommer ist. Sie ist ja nicht nur Ärztin, sondern hat nach der Pensionierung auch noch Musikwissenschaften studiert. Sie räumt ihre Papiere beiseite, serviert den Kaffee. Dann ihr erster Satz, bevor ich den Mund öffnen kann: «Frau Schmid, schlagen Sie sich die Idee mit der Biografie aus dem Kopf, da mache ich nicht mit. Ich habe gar keine Zeit für so etwas, und dann das ganze Persönliche, darüber muss man ja auch sprechen, das will ich nicht. Nein, das wird nichts.»
Wieso mag ich diese Frau so? Vielleicht ist es ihre etwas ruppige Unverblümtheit, die Leidenschaftlichkeit, die dabei durchschimmert. Ich bin jedenfalls nicht hierhergekommen, um gleich aufzugeben. Wir trinken Kaffee, wir reden, sie erzählt Geschichten aus der Vergangenheit. Sie hat einen Sinn für Dramaturgie, für die Pointe. Sie erzählt gerne. Ich lege ihr meine Vorschläge in Papierform auf den Tisch. Als mein Telefon klingelt und ich kurz rangehen muss, liest sie mein Konzept und das Verlagspapier durch. Sie ist mit ein paar inhaltlichen Dingen nicht zufrieden, aber sie wird milder. Der Text soll auf keinen Fall in der Ich-Form geschrieben sein. Auch das Konzept sieht eine klassische Biografie in der dritten Person vor, und es macht ihr nun doch etwas Eindruck, dass ein Verlag bereit ist, das Buch herauszugeben, obwohl sie immer noch nicht ganz daran glauben will, dass ihr Leben jemanden interessieren könnte. Und mit dem «Frauenzeugs» könne ich gleich wegbleiben. Dass sie eine Frau sei und Karriere gemacht habe, tue überhaupt nichts zur Sache. Sie habe nie einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht und sich immer gleichwertig gefühlt. Und was in den 1970er-Jahren in der Frauenbewegung los gewesen sei, darüber habe sie weder Bescheid gewusst, noch habe es sie interessiert. Sie habe gar keine Zeit für solche Themen gehabt. Sie habe arbeiten müssen und war daran, sich zu habilitieren.
Dann ein Lichtschimmer. Sie fragt, wie viel Arbeit es für sie wäre. Sie habe ja viel zu wenig Zeit. Die Kurse in Altgriechisch hätten wieder angefangen, ihre ganzen Konzerte, da eine GV, dort eine Beerdigung, ihre Agenda sei gut gefüllt. Ich sage, es würden vermutlich 10 bis 20 Interviews, je nachdem wie lange wir sprechen könnten. Wir würden uns treffen und reden, bei ihr oder auch mal bei mir in Zürich, wo sie ja häufig sei. Sie könne am Ende alles lesen und die Fehler korrigieren, aber es sei natürlich mein Text. Sie müsse damit leben können, dass es meine Sicht auf ihr Leben sein werde. Sie denkt nach. «Dann ist es nicht so viel Aufwand für mich.» «Überlegen Sie es sich, und schlafen Sie darüber. Ich kann Sie ja morgen anrufen.» «Nein, das ist nicht nötig, dann machen wir es so», sagt sie plötzlich, wie aus heiterem Himmel. «Also Sie machen mit?» Jetzt bin ich fast überrumpelt, dass sie so unvermittelt zusagt. «Wollen Sie nicht nochmals darüber nachdenken? Schlafen Sie darüber. Ich rufe Sie morgen an.» «Nein, es ist in Ordnung, wenn es nur die Gespräche sind und ich es lesen darf, dann ist es gut.»
Ich bin verblüfft über diese Kehrtwende, aber sie hat in den vergangenen eineinhalb Stunden wieder so lebendig aus ihrem Leben erzählt. Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Und letztlich weiss sie wohl trotz allem, wie viel Potenzial in ihrem Leben steckt. «Wollen wir uns nicht duzen? Immerhin schreiben wir nun ja ein Buch zusammen», schlage ich vor. «Ja, wieso nicht. Ruth.» «Denise.»
Ich merke, dass ihr nicht ganz wohl dabei ist, mit einer fast Fremden so schnell per Du zu sein. Der Generationenunterschied zwischen uns. Aber die vertrauliche Anrede wird bald einmal zur Selbstverständlichkeit.
«Und was ist, wenn ich mich falsch erinnere?», fragt sie. «Diese Gefahr besteht, ich bin 92.» «Ja, das kann man nicht ausschliessen. Aber jede Biografie ist ein Konstrukt, und ich werde zusätzlich historischen Hintergrund recherchieren und versuchen, mit anderen Personen zu sprechen.» «Aber die allermeisten sind doch schon tot», meint sie nüchtern. «Und was ist, wenn ich plötzlich sterbe?» «Du wirst nicht bald sterben. Da ist so viel Energie. Ich habe keine Angst. Wir schreiben dieses Buch zusammen.» Sie lächelt ein wenig. Das erste Mal. Wir vereinbaren einen ersten Interviewtermin. Am 18. Mai ist sie abends an einem Konzert in Zürich und übernachtet dann im Hotel Seehof. Sie kann am nächsten Morgen zu mir ins Büro kommen. «Gut, dann bin ich um acht Uhr bei dir.» «Für mich ist das gut, aber ist das nicht zu früh für dich?» «Mir ist keine Zeit zu früh.»
Januar 2016
Ein Jahr ist vergangen seit unserem Essen im Restaurant Chesa in Davos, mehr als ein halbes Jahr ist es her seit dem ersten Interview für das Buch. Längst haben wir mehr als zehn Gespräche geführt. Interessante Monate liegen hinter uns. Zu Beginn kam Ruth oft bei mir an und liess mich spüren, dass ihr die Angelegenheit lästig sei. Es ermüdete sie, über ihre Vergangenheit zu sprechen, aber sie war loyal und tat es trotzdem, und immer wieder fing sie auch Feuer für die Geschichten und Anekdoten aus ihrem Leben. Einmal sprach ich sie auf ihren Widerstand an, sagte, dass sie es rechtzeitig sagen solle, wenn sie aufhören will, nicht erst, wenn ich drei Viertel des Buches geschrieben habe. Sie schaute mich etwas verwundert an und versicherte dann, dass sie sich an die Abmachung halten werde. Sie kann stachelig und widerspenstig sein, streitet auch gerne, vor allem, wenn ich private Fragen stelle, die sie wie lästige Fliegen abwehrt. Sie ist auf der Hut und nicht leicht zu greifen. Sie hat es in der Hand, ihre Informationen zu dosieren. Und so grosszügig und offen sie sein kann, sie macht von ihrem Wissensmonopol gewiss auch Gebrauch. Ich weiss zwar nicht, was ich nicht weiss, aber ich ahne mitunter, dass es Dinge gibt, die ich nicht erfahren soll und vielleicht auch nicht erfahren muss.
Alles in allem ist es eine höchst faszinierende Erfahrung,