Migrationsland Schweiz. Группа авторов

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häufig die gleichen Vorbehalte vorgebracht werden wie damals bei den Frauen. Widerspricht es auch dem Naturell der Ausländer, sich politisch zu betätigen, wie es damals von den Frauen behauptet wurde? Sind auch sie, wie damals die Frauen, so zufrieden mit dem Staat und der Gesellschaft, dass sie gar kein Interesse an einer Mitsprache haben? Sind sie einfach nur auf Arbeit und Verdienst, auf Freizeit und Konsum aus wie die Frauen damals angeblich auf Kinder, Küche und Kirche konzentriert waren? Ein weiteres häufig wiederkehrendes Argument besagt, die Zeit sei noch nicht reif dafür. Auch beim Frauenstimmrecht wurde immer wieder bemerkt, die Zeit sei noch nicht reif. Wann genau wäre sie bei den Frauen reif gewesen? Vermutlich etwa hundert Jahre vor der tatsächlichen Einführung.

      WELCHE RECHTE FÜR WEN, WELCHE MITSPRACHE FÜR WEN?

      Die bürgerlichen Rechte, die politischen Rechte und die sozialen Rechte bildeten seit dem Beginn des Sozialstaats die Trias der staatlichen Zugehörigkeit, erklärte Thomas H. Marshall in seinem berühmten, 1950 publizierten Essay.5 Doch heute verlaufen die Trennlinien ganz anders: Die politischen Rechte gehören den Staatsbürgern. Die bürgerlichen Rechte, die immer mehr zu universell geschützten Menschenrechten geworden sind, gehören allen, egal, welchen Status sie in einem Land haben, denn Rede-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind nicht an einen bestimmten legalen Status gebunden; viele grundlegende Rechte werden daher heute nicht mehr nur durch das Staatsbürgerrecht bestimmt, sondern auch durch Menschenrechtsvereinbarungen. Die sozialen Rechte wiederum gehören der Gruppe, die einen bestimmten, von der staatlichen Zugehörigkeit unabhängigen Aufenthaltsstatus besitzt. Wer über ein stabiles Aufenthaltsrecht verfügt, hat auf sozialer Ebene die gleichen Rechte wie ein Staatsbürger und ist im Hinblick auf AHV, Pensionskasse, Krankenkasse, Versicherungen, Arbeitslosenunterstützung, IV u. a. gleichgestellt. Alle diese Rechte waren ursprünglich geschaffen worden mit Blick auf die Staatsbürger, also auf eine klar abgrenzbare Gruppe. Heute aber gelten sie für viele weitere Menschen.

      Es ist somit ein Zwischenstatus entstanden zwischen Staats- und Weltbürger, etwa «denizen»6 oder Wohnbürger7 genannt. Unter diesem Status wird ein automatischer Zugang zu sozialen Rechten auch für Nicht-Staatsbürger nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer verstanden.8 Gleichzeitig werden aber die entscheidenden Weichenstellungen gerade im Bereich der Sozialpolitik von den Staatsbürgerinnen und -bürgern getroffen, wesentliche Teile der Betroffenen also ausgeschlossen. Das kann politisch langfristig nicht funktionieren. Immer mehr Menschen nutzen die Sozialwerke eines Landes nur für eine begrenzte Zeit, immer weniger Menschen nehmen deren Leistungen ein Leben lang in Anspruch. Die Rechte, die wir heute als Bürger und Bewohner eines Staates auf den unterschiedlichsten Ebenen haben, können daher nicht mehr als Einheit gedacht werden. Wir betonen die staatsbürgerliche Ebene der Zugehörigkeit überaus stark, nehmen die globale Ebene der bürgerlichen Freiheiten als selbstverständlich und vernachlässigen die Ebene der sozialen Rechte.

      Eine unmittelbare und vollständige Gleichstellung aller Bewohnerinnen und Bewohner hat politisch keine Chancen, wie verschiedene Abstimmungen gezeigt haben. Sie dürfte aber auch gar nicht sinnvoll sein, da neu ankommende und nur zeitlich begrenzt hier lebende Menschen weder das gleiche Interesse an der lokalen Gemeinschaft haben, noch die gleiche Verantwortung tragen müssen. Sinnvoll wäre eine Abstufung, sodass die Menschen nach einer bestimmten Zeit bei lokalen Belangen, in die man sich am schnellsten einlebt, mitbestimmen können, in einem weiteren Schritt bei kantonalen und in einem dritten bei nationalen. Dies würde dem Staatsaufbau entsprechen, aber auch eine sinnvolle Entwicklungslinie vom konkreten Umfeld zu zunehmend abstrakteren Ebenen der Politik und der Gesellschaft definieren, was zugleich den Lernprozess fördern würde.

      Menschen, die einige Jahre in einer Gemeinde gelebt haben, würden gemäss diesem Modell das lokale Stimm- und Wahlrecht erhalten. An Veranstaltungen würde ihnen das politische System auf lokaler Ebene vorgestellt. In enger Zusammenarbeit mit lokalen Parteien, Verbänden, Vereinen und Medien könnte zum Beispiel ein Jahrmarkt der Demokratie kreiert werden, wo sich diese Organisationen vorstellen und den Neuwählerinnen und -wählern die Möglichkeiten der Mitarbeit aufzeigen würden. Der zweite Schritt wäre eine Ausweitung auf die kantonale Ebene, wo in die Funktionsweise dieser Behörden, Parteien und Organisationen eingeführt würde, der dritte eine Ausweitung auf die nationale Ebene. Exkursionen mit aktiven Politikerinnen und Politikern, Führungen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern in ihrem Betätigungsfeld, Kurse zur demokratischen Bildung und weitere Anlässe, zu denen die neu Wahl- und Stimmberechtigten speziell eingeladen werden, sollten das Angebot ergänzen.

      DEMOKRATIE GRENZENLOS

      In einer Welt, die immer stärker von Mobilität geprägt ist, in einer Welt, in der immer mehr Menschen in zwei oder mehr Staaten Teile ihres Lebens verbringen, wird man sich aber auch Gedanken darüber machen müssen, ob der Nationalstaat als Aktionsradius der Demokratie genügt. Das Versprechen dieses Nationalstaats ist die exklusive Deckungsgleichheit von Gesellschaft, Politik und Territorium, also von sozialem, politischem und geografischem Raum. Nun haben wir es spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei einer zunehmenden Anzahl grenzüberschreitender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Prozesse mit einer Emanzipation des sozialen Raums vom geografischen Raum zu tun. Sozialräume und geografische Räume stimmen daher immer weniger überein. Die geografischen Räume rücken durch Technik und Kommunikation näher zusammen; gleichzeitig werden die sozialen Räume einerseits komplexer, stapeln sich quasi auf; das heisst, es finden sich auf engstem Raum unterschiedlichste Lebensformen und soziale Netzwerke. Andererseits weiten sich die sozialen Räume auch aus, bilden geografisch nicht mehr verbundene Einheiten. Räumlich weit auseinander lebende Communities stellen durch die Mittel des Transports und der Kommunikation einen gemeinsamen sozialen Raum her.9 Wenn soziale Interaktionen aber losgelöst vom geografischen Raum stattfinden können, ist örtliches Zusammensein keine zwingende Bedingung mehr für gemeinsame politische Rechte. Es wäre zu überlegen, wie staatsbürgerschaftliche Modelle jenseits des nur flächenräumlich gedachten Staats funktionieren könnten.

      Wenn Staatsbürger mit zwei oder mehr Pässen in verschiedenen Staaten ein Mitspracherecht haben, fördert das in einem ersten Schritt sicherlich die gegenseitige Wahrnehmung und die Auseinandersetzung mit politischen Prozessen in Ländern, mit denen man eine gewisse Schnittmenge an gemeinsamen Bürgerinnen und Bürgern hat. Mitreden und mitentscheiden ist dann nicht mehr an den Wohnsitz gebunden, sondern auch möglich, wenn man an anderen Orten der Welt lebt. Man beteiligt sich dann aus räumlicher Distanz, aber dennoch mit einem Gefühl der Zugehörigkeit am politischen Prozess.

      Zweitens wären in die demokratischen Entscheidungsprozesse Betroffene unabhängig von ihrer staatlichen Zugehörigkeit einzubringen, sofern sie sich nicht nur temporär in diesen Regionen aufhalten, sondern über längere Zeit dort leben. In einem dritten Schritt wären demokratische Entscheidungsprozesse über die nationalstaatliche Ebene hinaus in Gang zu setzen. Die EU hat mit ihrer Europäischen Bürgerinitiative, die im schweizerischen Sprachgebrauch eher einer Petition entspricht, ein solches Instrument etabliert, das aber noch nicht wirklich als Instrument demokratischer Mitbestimmung funktioniert.10 Solche Bestrebungen müssten ausgebaut werden, auch auf der Ebene grenzüberschreitender regionaler Entscheidungsprozesse, da diese häufig die Bewohnerinnen und Bewohner einer Region betreffen, auch wenn sie in verschiedenen Staaten leben.

      Wäre es also denkbar, sich die Ausübung demokratischer Rechte in Zukunft neu vorzustellen? Einerseits würde es selbstverständlicher, dass Menschen in zwei oder sogar mehr Staaten mitbestimmen dürfen, weil eben immer mehr Menschen zwei oder mehr Pässe besitzen. Das existiert als Möglichkeit schon heute, wäre also lediglich eine quantitative Ausweitung bereits bestehender demokratischer Rechte.

      Zweitens aber würden vermehrt Menschen Mitspracherechte bekommen, die nicht Bürgerinnen und Bürger, aber Bewohnerinnen und Bewohner eines bestimmten Territoriums sind. Dies hingegen wäre eine qualitative Ausweitung demokratischer Rechte, weil sie an vielen Orten noch nicht existiert. Einige Leute dürften angesichts eines solchen

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