Migrationsland Schweiz. Группа авторов
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Seit 2008 ist der Verein «Wahlkreis 100 %» in Kontakt mit Organisationen in der Schweiz, mit der Stimmrechtsinitiative in Basel und mit gewählten Migrantinnen und Migranten («Gewählte Stimme»). Sechs Schweizer Kantone haben mittlerweile eine Wahlbeteiligung von Migrantinnen und Migranten eingeführt. Das ist ermutigend und europaweit bereits eher die Regel als die Ausnahme: 15 von 28 EU-Staaten – plus Norwegen, Island und eben zu Teilen auch die Schweiz – praktizieren heute eine unterschiedlich ausgeprägte, aber gesetzlich geregelte Wahlbeteiligung von Nicht-EU-Staatsangehörigen auf der kommunalen Ebene, einige sogar bei regionalen und nationalen Wahlen. Das leuchtende Beispiel allerdings bleibt das weit entfernte Neuseeland. Dort werden Migrantinnen und Migranten nach einem Jahr Aufenthalt demokratisch integriert und sind an allen Wahlen wahlberechtigt.
Die Kooperationen und die Vernetzung, die der Freiburger «Wahlkreis 100 %» aktiv sucht und eingeht, ergeben ein dichter werdendes Netz, das Migrantenvertretungen und Organisationen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Bremerhaven sowie in Freiburgs Partnerstädten Padua und Granada, Strassburg und Florenz verbindet. Im Rahmen eines EU-Projekts der Jahre 2014/15 mit fünf europäischen Partnern entwickelte sich das 100 %-Modell zu einem kleinen Exportschlager. Anlässlich der Kampagne «Hier lebe ich, hier wähle ich» tauchten an den Projektorten in Andalusien, nördlich von London und in der Toskana ähnliche symbolische Wahlurnen auf wie in den Strassen von New York bei den Bürgermeisterwahlen im November 2013. In Deutschland hatten in Berlin 2011 und in Sachsen-Anhalt 2016 symbolische Wahlen stattgefunden.
Würde das 100 %-Modell als Form der politischen Aktion zur Erreichung eines gleichberechtigten Wahlrechts in der Schweiz angewandt, wäre dies genaugenommen eine Art Reimport. Denn als die «New York Times» am 3. März 1957 «First Votes Cast by Swiss Woman» titelte, bezog sie sich auf 33 nicht-wahlberechtigte Bewohnerinnen des Walliser Dorfes Unterbäch, die am Abstimmungstag unter gewaltiger Medienbeachtung ihre symbolische Stimme an der Wahlurne abgaben und damit ihre politische Beteiligung einforderten. Es sollte zwar noch 14 Jahre dauern, bis ihre Stimmen an der Wahlurne auf Bundesebene tatsächlich zählten, aber noch heute ist diese symbolische Wahl ein gefeierter Meilenstein des demokratischen Fortschritts. Die Zeit ist reif für das Unterbäch der Migrantinnen und Migranten in der Schweiz.
«ELECTORAL REBELLION»
Die heutige Welt ist aber nicht nur durch Migration gekennzeichnet. Es fliessen auch Informationen, Geld, Waren und Schadstoffe über nationalstaatliche Grenzen. Dies führt dazu, dass die Politik eines Staates massive Effekte auf andere Staaten ausübt. Für die Demokratie stellt sich darum die Frage, ob Menschen, die jenseits der Grenzen eines Nationalstaats leben, aber trotzdem massiv von der Politik dieses Landes betroffen sind, in diesem Staat mitbestimmen sollten. Beschliesst ein Staat beispielsweise, an der Atomenergie festzuhalten, während ein benachbartes Land auf alternative Energiequellen setzt, so sind die Bürgerinnen und Bürger im benachbarten Land weiterhin dem Risiko der atomaren Energieerzeugung ausgesetzt; sie haben aber keine Möglichkeit, über diese Politik mitzubestimmen. Insbesondere mächtige und einflussreiche Länder üben einen massiven Einfluss auf Nachbarländer und oftmals weit über diese hinaus aus. So die USA, die mit ihrem «War on Drugs» Mexiko und andere lateinamerikanische Länder destabilisiert, oder die EU, die mit ihren subventionierten Landwirtschaftsexporten vielen Bäuerinnen und Bauern in Afrika die Erwerbsgrundlage ruiniert. Zu den wirtschaftlich mächtigsten Ländern gehört auch die Schweiz, die es mit ihrem Bankgeheimnis und den tiefen Steuern für multinationale Konzerne vielen anderen Ländern der Welt verunmöglicht, einkommensstarke Personen und Unternehmen angemessen zu besteuern.
Auch Deutschland ist ein mächtiges Land, dessen Politik für viele Menschen jenseits der deutschen Grenzen erhebliche Bedeutung hat, wie sich unter anderem bei der Eurokrise zeigte. Die Aktion «Electoral Rebellion» wollte ein Zeichen dafür setzen, dass es angebracht wäre, Menschen ohne deutschen Pass an der Wahl des deutschen Parlaments teilnehmen zu lassen. Bei der Bundestagswahl 2013 konnten deshalb deutsche Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme an eine nicht-stimmberechtigte Person im In- oder Ausland «verschenken». Dazu meldeten sie sich auf der Facebook-Seite «Electoral Rebellion» mit einem Post, in dem sie erklärten, dass sie ihre Stimme verschenken wollten.5 Nicht-stimmberechtigte Menschen konnten dort ihre Stimme einlegen, indem sie den Schenkenden kontaktierten und ihm mitteilten, welche Partei oder welche Kandidaten in ihrem Namen am Wahltag gewählt werden sollten. Der Schenkende trug diesen Wunsch dann in seinen Wahlzettel ein. Bis zum Wahltag am 22. September 2013 verschenkten mehrere 100 Deutsche über «Electoral Rebellion» ihre Stimme. Im Wahljahr standen in der Medienberichterstattung und in öffentlichen Debatten die Eurokrise und im Speziellen der prekäre Zustand des griechischen Staatshaushalts im Fokus. Auch Spanien befand sich zu jener Zeit unter dem Europäischen Rettungsschirm und kämpfte sich gerade aus der Krise. Es war daher nicht überraschend, dass «Electoral Rebellion» gerade in den südeuropäischen Ländern auf grosses Interesse stiess. Tausende Menschen aus Spanien, Griechenland, Italien und weiteren Ländern weltweit suchten bei «Electoral Rebellion» einen «vote-buddie», der ihnen seine Stimme lieh, oder sie beteiligten sich an den Diskussionen auf der Plattform. Die Aktion löste ein enormes Interesse bei Print- und Online-Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen in Deutschland wie auch in Spanien aus.
Das Verschenken der Stimme bei «Electoral Rebellion» trägt einen stark symbolischen Charakter. Ziel der Aktion war es, dass Deutsche mit Nicht-Deutschen ins Gespräch kommen und sich über die unterschiedlichen Perspektiven und die eigene Betroffenheit über die deutsche Politik unterhalten. Darüber hinaus sollte ein Nachdenken über die Grenzen nationaler Demokratie angeregt werden. Luisa, eine 28-jährige Deutsche, war eine Teilnehmerin von «Electoral Rebellion», die ihre Stimme verschenkte. «Electoral Rebellion ist eine tolle Möglichkeit, gegen den Mangel an Demokratie in der globalen Politik zu protestieren. Ich liebe mein Wahlrecht – gerade deshalb will ich es jemandem schenken, der von der Macht der Bundesregierung genauso betroffen ist wie ich», sagte sie. Ihre Stimme bekam Joan Marc aus Spanien, 38 Jahre alt. Er begründete seine Teilnahme bei der Aktion so: «Ich finde es nicht richtig, dass die Leute, die über die Zukunft meines Landes mitbestimmen, sich vor uns nicht verantworten müssen. Denn wir müssen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen tragen.»
Eine ähnliche Aktion hatte bereits 2010 in Grossbritannien stattgefunden. Im Rahmen der Kampagne «Give Your Vote» anlässlich der Parlamentswahlen verschenkten Tausende Briten ihre Stimme an Menschen in Afghanistan, Bangladesch und Ghana.6 Im Januar 2013 verschenkten Israelis bei der Parlamentswahl über «Real Democracy» ihre Stimmen an Palästinenserinnen und Palästinenser.7 Alle «Wahlrebellionen» wurden von politischen Aktivistinnen und Aktivisten des weltweiten Netzwerks Egality initiiert. Sie setzen sich für demokratische Strukturen auf globaler Ebene ein, indem sie durch Aktionen wie «Electoral Rebellion» politische Debatten anstossen.
«ELECTORAL REBELLION» IN DER SCHWEIZ
Die Aktivistinnen und Aktivisten von «Electoral Rebellion» wollen primär darauf hinweisen, dass nationale Politik heute internationale Effekte besitzt und die Beschränkung der demokratischen Mitbestimmung auf die Bürgerinnen und Bürger oder aber auch auf die Bewohnerinnen und Bewohner eines Landes darum nicht mehr zeitgemäss ist.
Die Aktion «Electoral Rebellion» könnte in Zukunft vermehrt darauf abzielen, Emigrantinnen und Emigranten zum «verschenken» ihrer Stimme zu bewegen. Denn so schwer sich die meisten Demokratien bei der Inklusion von Immigrierenden in ihr Stimmvolk tun, so leicht