Migrationsland Schweiz. Группа авторов
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Während sich praktisch alle einig sind, dass Migrantinnen und Migranten, die dauerhaft in einem Land leben, eine Stimme im politischen Prozess erhalten sollten, gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wann dies zu geschehen hat. Für diejenigen, die vor allem den Schutz der individuellen Rechte und Interessen der Migrantinnen und Migranten im Auge haben, muss die Inklusion möglichst früh erfolgen. Bei denjenigen, die gemeinsame Werte als Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie betrachten und die sich um die politische Kultur eines Landes Sorgen machen, ist die Sache nicht so klar. Für Konservative kommt eine Inklusion erst in Betracht, wenn Migrantinnen und Migranten sich assimiliert haben und die Kultur der Einheimischen teilen. Progressive verweisen darauf, dass eine frühe politische Inklusion dazu beiträgt, dass sich Migrantinnen und Migranten für die politische Kultur eines Landes erwärmen können und dass sich die politische Kultur eines Landes durch deren Inklusion zeitgemäss weiterentwickelt. Wieder andere sehen eine gewisse Vertrautheit mit dem politischen System als notwendige Voraussetzung, um produktiv mitwirken zu können. Der IMIX schliesst sich einem sich immer mehr herauskristallisierenden Konsens an, der davon ausgeht, dass Demokratien denjenigen, die fünf Jahre legal und durchgehend in einem Land gelebt haben, das Wahl- beziehungsweise Stimmrecht geben sollten. Allein durch die Einführung von Beiräten ist die politische Inklusion unzureichend, denn nur wenn Immigrantinnen und Immigranten auch eine Stimme haben, die bei den Abstimmungen und Wahlen zählt, werden sich Politikerinnen und Politiker um ihre Interessen kümmern.
DIE SCHWEIZ IM INTERNATIONALEN VERGLEICH
Der nächste Schritt im Hinblick auf den IMIX bestand darin, ein konkretes Messinstrument zu entwickeln, mit dem man in systematischer Art und Weise die Situation in verschiedenen Demokratien vergleichen kann. Der IMIX misst die politische In- beziehungsweise Exklusivität von nationalen Demokratien gegenüber Migrantinnen und Migranten in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird anhand der Gesetzgebung eines Landes eruiert, wie inklusiv das Land de jure ist. Zum anderen wird berechnet, wie viele der Immigrantinnen und Immigranten, die eigentlich inkludiert werden müssten, de facto inkludiert sind. Beide Perspektiven haben Vor- und Nachteile: Die in den Gesetzen eines Landes verankerte Inklusivität verkörpert den in demokratischen Prozessen festgelegten Willen der Einheimischen sowie denjenigen der bereits Inkludierten. Allerdings gibt es jenseits der einschlägigen Gesetze weitere Hürden bei der Inklusion, weshalb die Gesetze die reale Situation manchmal nur sehr unzureichend abbilden. Deswegen erscheint eine Berücksichtigung der realen Inklusivität notwendig. Eine alleinige Bewertung auf der Basis solcher Zahlen ist aber auch problematisch, weil die reale Inklusivität auch durch Faktoren beeinflusst werden kann, für die nicht die Demokratie des Landes verantwortlich ist – zum Beispiel die Staatsbürgerschaftsgesetze der Herkunftsländer.
Der IMIX berücksichtigt zwei Möglichkeiten, wie Demokratien Immigrantinnen und Immigranten inkludieren können: durch die Einbürgerung oder durch die Einführung eines Ausländerstimmrechts – angemessener wäre der Begriff «Bewohnerinnenstimmrecht». Obwohl wir der Ansicht sind, dass es für das Ausländerinnen- und Ausländerstimmrecht ebenso viele gute demokratietheoretische Argumente gibt wie für die Einbürgerung, wurde im IMIX die Einbürgerung doppelt gewichtet. Dies zum einen, weil im theoretischen und praktischen Diskurs Letzteres immer noch als Königsweg gilt. Zum anderen, weil es angemessen erschien, im Zweifelsfall eine eher konservative Position einzunehmen, um die Akzeptanz des IMIX und seiner Ergebnisse zu stärken. Für die beiden Perspektiven und die beiden Möglichkeiten der Inklusion wurden dann konkrete Indikatoren festgelegt, und für die meisten Mitglieder der Europäischen Union und für die Schweiz Daten gesucht.
Inklusivität europäischer Nationalstaaten in Bezug auf Immigrantinnen und Immigranten.
= Durchschnitt. Quelle: Blatter, Schmid, Blättler, 2016 (siehe Anm. 3).Insgesamt ergab sich folgendes Bild: Auch in den bestentwickelten Demokratien Europas sind wir von einem universellen Wahlrecht noch weit entfernt. Einem grossen Teil der erwachsenen Wohnbevölkerung wird bis heute das Stimm- und Wahlrecht verwehrt. Dies lässt sich unabhängig davon feststellen, ob wir die Gesetze der Länder analysieren oder die De-facto-Inklusivität betrachten. Es gibt zwischen den Ländern aber deutliche Unterschiede: Skandinavische Länder sowie Belgien und die Niederlande sind besonders inklusiv, wohingegen die deutschsprachigen Länder, insbesondere auch die Schweiz, sich als besonders exklusiv erweisen. Die hohe Exklusivität der Schweiz lässt sich dabei nicht nur damit erklären, dass das Land viele Migranten anzieht und diese im Rahmen der bilateralen Verträge auch einwandern liess. Die Schweiz schneidet auch bei der Vermessung ihrer De-jure-Inklusivität sehr schlecht ab, was zeigt, dass sie Einwandernde nicht oder nur sehr zögerlich inkludiert beziehungsweise inkludieren will.
Auch Deutschland schneidet beim IMIX kaum besser ab als die Schweiz. Das leicht bessere Abschneiden resultiert aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, denn alle EU-Länder müssen den Bürgerinnen und Bürgern anderer EU-Länder auf der kommunalen Ebene das Wahlrecht zugestehen.3 Allerdings gab es in Deutschland in den letzten Jahren bürgerschaftliche Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, die demokratischen Defizite, die durch Exklusion von Migranten und anderen Betroffenen entstehen, zu thematisieren und sie etwas zu reduzieren. Zwei dieser Initiativen stellen wir im Folgenden vor.
FREIBURGER «WAHLKREIS 100 %»
Bei den Kommunalwahlen sind in Deutschland auch ausländische Staatsangehörige wahlberechtigt, allerdings nur jene, die einen EU-Pass vorzeigen können. Für sie gelten dieselben Voraussetzungen wie für deutsche Staatsangehörige: Nach drei Monaten gemeldetem Wohnsitz in einer Kommune erhalten sie ihre Wahlbenachrichtigung und können am Wahlsonntag ihre Stimme für die Parlamente der Kommunen und Kreise abgeben. Der überwiegende Teil der ausländischen Staatsangehörigen in Deutschland kommt aber nicht aus anderen EU-Ländern. Sie mögen drei Monate oder 30 Jahre im Gemeinwesen gelebt haben, ihre Stimme ist nicht gefragt und zählt nicht. Dies bedeutet, dass in der Bundesrepublik Deutschland 7,8 Millionen der erwachsenen Wohnbevölkerung kein Wahlrecht besitzen.
Im Südwesten der Bundesrepublik allerdings gibt es seit 14 Jahren eine Ausnahme: Neben dem offiziellen Wahlkreis werden in einem zusätzlichen Wahlkreis, dem Freiburger «Wahlkreis 100 %», die nicht-wahlberechtigten 19 000 Migrantinnen und Migranten zu einer symbolischen Stimmabgabe aufgefordert. Nach demselben Verfahren und mit denselben Parteien und Kandidaten des offiziellen Wahlkreises können die Migrantinnen und Migranten mit ihrer symbolischen Stimmabgabe am Wahlsonntag ihr Votum für ein gleichberechtigtes Wahlrecht und für demokratische Teilhabe zum Ausdruck bringen. Der «Wahlkreis 100 %» bringt sich mit Strassenständen, Wahlplakaten, Veranstaltungen, Wahlprüfsteinen, Kinospots und aktiver Medienarbeit in den Wahlkampf ein. Bei vier Wahlen in den Jahren 2002 bis 2014 konnten bis über 1000 Menschen zu einer symbolischen Stimmabgabe in den 100 %-Wahllokalen in Freiburg begrüsst werden.4 Parallel zur offiziellen Wahl wählten nicht-wahlberechtigte Migrantinnen und Migranten ihren symbolischen Gemeinderat oder Bundestag. Die abgegebenen Stimmen wurden den gewählten Bundestagsabgeordneten feierlich als «Wählerauftrag» übergeben, und die von den Migranten gewählten kommunalen Vertreter wurden zu einer symbolischen 100 %-Gemeinderatssitzung einberufen, um politische Partizipation und die Einführung des kommunalen Wahlrechts öffentlich zu debattieren.
Wahlberechtigte mit deutschem und EU-Pass sind ebenfalls aufgerufen, in den 100 %-Wahllokalen mit ihrer Stimme eine Wahl zu treffen: für oder gegen die Einführung des kommunalen Wahlrechts aller Bürgerinnen und Bürger einer Kommune – unabhängig vom Pass. Denn die demokratische Beteiligung liegt nicht nur im Interesse der ausgeschlossenen Migrantinnen und Migranten, sondern ist ein vitales Interesse einer sich demokratisch verstehenden Gesellschaft und braucht die Unterstützung derer, die zur anerkannten Wahlbevölkerung gehören.
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