Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
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Die Dietsches sind eine lebhafte Familie. Sie reden laut und sind manchmal etwas rau, sie lachen und singen auch viel. Ihr Wohlstand kommt nicht nur vom Laden und vom Bauernbetrieb; der Grossvater ist auch Viehhändler. Im Haus herrscht ein ganz anderer Geist als bei Gottlieb und Emma Hutter im Unterdorf, den Grosseltern väterlicherseits. Hier ist alles viel kleiner und enger, ruhiger, aber auch herzlicher. Grossmutter Emma hat 14 Kinder geboren, zwei sind gestorben. Gardi Hutter sagt: «Sie war ein Wesen von fast Zen-artiger Friedlichkeit. Obwohl sie immer arbeitete, schien sie in sich zu ruhen und strahlte eine Heiterkeit aus. Mit 96 Jahren sagte sie eines Nachmittags, sie fühle sich müde. Dann legte sie sich hin und starb.»
Die Hutters sind generell stille Leute, selbst beim Jassen wird kaum gesprochen. Nur Fritz, einer der drei Brüder des Grossvaters Gottlieb – der in die USA ausgewandert war und zurückkehrte –, schlägt aus der Familie und unterhält in der Dorfwirtschaft jeweils den ganzen Saal. Prompt wird später behauptet, Gardi habe ihr Talent vom Grossonkel geerbt.
Die zwei jüngsten Schwestern von Erwin Hutter werden Klosterfrauen in Baldegg und gehen in die Mission – damals eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen aus einfachen Verhältnissen, in die Welt hinaus zu kommen. Verona Hutter schafft es in den 1970er-Jahren bis nach Papua-Neuguinea und Tansania.
Gardi hilft wie alle Kinder auf beiden Höfen mit, hütet Kühe und Schafe und liebt das Landleben. Die Bauern im Rheintal betreiben Milchwirtschaft, und viele bauen neben Kartoffeln auch Erbsen für die Konservenfabrik Hero an; so auch Gardis Grosseltern.
Seit 1886 stellt Hero Büchsenerbsen her. In den 1900er- Jahren steht die Fabrik noch in Frauenfeld, wo die umliegenden Erbsenfelder liegen, und auch im Rheintal stellen die Bauern auf das Gemüse um. Gardi Hutter lacht, als sie erzählt, dass sie in ihrer ganzen Kindheit immer nur «Puverli und Rüebli» – Schweizerdeutsch für «pois vert», grüne Erbsen, und Karotten – aus der Dose zu essen bekam und nie frische Erbsen, obwohl sie sogar beim «Puverle» mithalf, dem Pulen der Erbsen aus den Schoten. Aber das Gemüse ging in die Fabrik und landete erst aus der Büchse wieder auf dem Teller. «Aus heutiger Sicht war es ziemlich absurd. Man befand sich in einer Gegend voller frischer Erbsen und ass sie bei den Grosseltern und bei uns zu Hause aus der Büchse, aber wir Kinder liebten die Puverli und Rüebli. Und es gab sie nur am Sonntag.» Erst im Alter von etwa dreissig Jahren kommt sie nach einem Auftritt bei einem Abendessen in einem Kloster im Walsertal das erste Mal in Berührung mit frischen Erbsen – eine Offenbarung: «Ich fiel fast vom Stuhl, dass Erbsen einen solch intensiven Geschmack haben konnten, unglaublich. Aber Konserven galten in meiner Kindheit als modern – und meine Mutter hatte wenig Zeit zum Kochen.»
Die Grosseltern Dietsche mit ihren Kindern; Gardis Mutter vorne links.
Die Familie um die Grosseltern Hutter; Gardis Vater oben links.
Gardis Eltern, Irma und Erwin Dietsche, heiraten am 7. Oktober 1946 in Altstätten. Beide haben Schneider gelernt; sie bauen erfolgreich ein Modehaus auf.
1948 erwerben Hutters ein Haus an der Trogenerstrasse 24 in Altstätten. Im Erdgeschoss führen sie das Geschäft, darüber wohnt die Familie.
Ein Schaufenster Anfang der 1950er-Jahre. Das Modehaus E. Hutter führt Herren-, Damen- und Kinderkleider.
Ende der 1950er-Jahre können sich Hutters ein kleines Ferienhaus auf dem Ruppen und einen Zweitakter DKW leisten.
Sommerferien in Italien. Skeptisch betrachtet die kleine Gardi einen steinernen Löwen in Venedig – ob er nicht doch lebendig wird?
Gardi Hutter 1958 als Fünfjährige im Kindergarten; stolz bewältigt sie den Weg dorthin alleine.
Weihnachten bei Familie Hutter, es wird musiziert und viel gesungen. Auch sonst ist das Singen wichtig im Familienleben.
KATHOLISCH, ZÜCHTIG, STRENG
Gardi Hutters Kindheit kennt viele Widersprüche, Widerstände, Unterschiede, aber vielleicht ist ihr Blick auch besonders geschärft für diese Aspekte. Der Kanton St. Gallen ist konfessionell gemischt, im Rheintal leben zwar mehrheitlich Katholiken, aber in Altstätten gibt es auch eine protestantische Kirche, und die beiden konfessionellen Lager stehen sich misstrauisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Man grenzt sich strikt voneinander ab. Der tiefe Graben zwischen Protestanten und Katholiken ist auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich spürbar. Er geht zurück auf den sogenannten Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Liberale, aufklärerische Ideen setzen sich damals weitherum gegen den als rückständig geltenden Katholizismus durch. In der Folge grenzen sich die Katholiken immer mehr ab und igeln sich in ihrem katholischen Milieu ein. Gardi Hutter wächst in diesem nach innen zwar intakten, nach aussen aber isolierten Umfeld auf.
Man bleibt unter sich, besucht mehrmals pro Woche den Gottesdienst, schickt die Kinder auf katholische Schulen, liest katholische Zeitschriften und Bücher, wählt die Kandidaten der katholischen Partei, geht in den katholischen Turnverein, singt im katholischen Kirchenchor und bleibt in den zahlreichen katholischen Vereinen unter sich. Es wird untereinander geheiratet, und nur katholisch geschlossene Ehen werden als gültig anerkannt. Homosexualität, Scheidungen, Abtreibungen, Sexualität vor der Ehe und ausserhalb der Fortpflanzung, uneheliche Kinder – alles Verstösse gegen die göttliche Ordnung und unaussprechliche Tabus.
In diesem Klima wächst Gardi Hutter heran. Früh wird ihr eingebläut,