Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid

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Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid

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Zug hat die Methode: Irma Hutter lebt nach dem Motto «Müssiggang ist aller Laster Anfang». Doch es ist nicht etwa so, dass die Kinder dauernd kontrolliert würden, das geht gar nicht. Die Eltern sind viel zu beschäftigt im Laden, und so gibt es trotz strenger Erziehung doch einigen Freiraum, den die Kinder draussen nutzen.

      MÄDCHEN SIND «DAS ANDERE»

      «Wenn wir aus dem Haus waren, dann waren wir frei. Wir spielten stundenlang Verstecken und Völkerball auf der Strasse, und mit den Nachbarskindern haben wir wilde Banden gebildet. Es kam kaum ein Auto, und wenn, dann ist man kurz zur Seite getreten.» Die Altstadt ist belebt von kleinen Gewerbebetrieben. Gleich in der Nachbarschaft des Modehauses befinden sich nicht nur ein Bäcker und ein Metzger, sondern auch ein Gerber, ein Schmied und ein Küfer, der Fässer herstellt. «Ich weiss heute noch, wie es beim Gerber und in der Schmiede roch und wie wir Kinder zusahen, als im Notschlachthaus eine Kuh ausgenommen wurde, die ausgestreckt am Boden lag. Das machte uns grossen Eindruck. Als ich klein war, spielte ich auch oft draussen mit Puppen. Ich habe mit Nachbarsmädchen mit abgebrochenen Bleistiftminen ein Haus, ein Spital, die Schule, den Laden et cetera auf die Strasse gemalt, und dann sind wir mit den Puppen hin- und hergegangen und haben uns Geschichten ausgedacht.»

      Das ist die Mädchenseite ihrer Spiele, aber es gibt auch die Bubenseite, an der sie sich gerne beteiligt. «Meine zwei grossen Brüder haben viel Unfug und Gefährliches gemacht, sind von hohen Mauern gesprungen, haben ein Luftdruckgewehr ausprobiert, und ich bin natürlich immer mit und hinterher. Sie waren meine grossen Vorbilder.» Ein zugelaufener Hund wird in die Familie aufgenommen und Rexli genannt.

      Die Position von Gardi als drittem Kind und einzigem Mädchen in der Familie ist nicht immer einfach. Den beiden grossen Brüdern eifert sie nach. Dass diese oft auf ihre kleine Schwester aufpassen müssen, ist ihnen aber eher lästig. Denn wenn die Kleine ihnen nachrennt, umfällt und schreit, werden sie mit einer Ohrfeige bestraft. Gardi hingegen muss sich als Jüngere wehren und verteidigen. «Es ging rau zu und her. Wir waren vier Kinder und wetteiferten um alles, vom Dessert bei Tisch bis zur Aufmerksamkeit der Eltern.» Wenn Gardi zu Weihnachten oder zum Geburtstag Schokolade bekommt, muss sie diese gut vor Erwin und Fredi verstecken. Und dann finden sie sie trotzdem, essen sie der Schwester genüsslich weg und platzen vor Schadenfreude. Denn sie war ja nicht schlau genug, ein gutes Versteck zu finden. Einmal entdecken die Brüder ein Tagebuch, das Gardi führt, lesen es und ziehen sie damit auf. Gardi ist wütend und gekränkt, auch dass die Mutter sie in solchen Momenten nicht in Schutz nimmt. Sie fühlt sich oft alleine. Ihr Zimmer ist viel grösser als der enge Raum, den die drei Buben teilen, weil er auch noch als Gästezimmer dient. Die Brüder beneiden sie um das grosse Einzelzimmer. Sie wiederum wäre nur zu gern Teil der Zimmergemeinschaft nebenan. Wegen einer fehlenden Heizungsröhre klafft ein Loch in der Wand zwischen den Räumen. Gardi beobachtet wehmütig, wie die Jungs miteinander toben. Sie gehört dazu und gehört doch nicht dazu; ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter.

      Hängt die Fremdheit auch damit zusammen, dass der Geschlechterunterschied von den Eltern so stark betont wird? Gardi möchte sein wie die Brüder, muss aber anders sein, weil sie ein Mädchen ist. Mädchen sind brav, tragen Röckchen, weisse Kniesocken, klettern nicht auf Bäume, pfeifen nicht und sind nicht laut. Mädchen nehmen sich zurück, passen sich an, sind lieb.

      Es sind nicht nur die Eltern, die so denken – die gesellschaftlichen Strukturen sind darauf ausgelegt, den Geschlechterunterschied zu betonen. Vom getrennten Schulunterricht über die Trennung in den Kirchenbänken bis zu den zwei unterschiedlichen Kinder- und Jugendverbänden: Pfadfinder für die Buben und Blauring für die Mädchen. Während die Brüder mit der Pfadi durch den Wald pirschen und im Pfingstlager zelten dürfen, sitzt Gardi im Blauring, wo gehäkelt und gebastelt wird. «Mit 13 konnte ich dann endlich auch in die Pfadi, als Leiterin für die Jüngsten, die Wölfli. Kaum war das möglich, wechselte ich sofort. Aber natürlich konnte ich da nicht rumtoben. Ich war ja verantwortlich für die Kleinen – war quasi die vorbildliche Ferienmutter. Aber mit einem Pfadiführer scheu geschmust habe ich dann trotzdem.»

      Die Botschaft in ihrer Jugend ist immer dieselbe: Mädchen sind «das Andere». Gardi ist von ihrem Naturell her aber gar nicht so anders. Sie steckt voller Energie. Sie rennt gerne mit den Buben mit, eifert den zwei Grossen nach, hat ihren Spass an wilden Spielen und Mutproben. Erwünscht ist das nicht. Und so steht sie zwischen den Welten. Sie soll anders sein und anders werden. Sie hadert mit dem Mädchenbild, so wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ich denke, dass ich eine andere Person geworden wäre, vielleicht sogar einen anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, wenn wir zwei Mädchen und zwei Buben in der Familie gewesen wären», sagt sie im Rückblick, «es wäre mir einiges an Selbstzweifeln erspart geblieben.»

      Der jüngste Bruder Gilbert habe es am einfachsten gehabt, sagt sie. Er ist Mutters Liebling, verhält sich umgänglich und brav, ist nicht so trotzig wie die ältere Schwester. Erwin, Fredi und Gilbert Hutter erleben ihre Kindheit weniger streng als die Schwester. Eine schöne Kindheit hätten sie gehabt, erzählen sie heute und bestätigen gleichzeitig, dass es für Gardi als einziges Mädchen schwieriger gewesen sei. Die Mutter erlaubt den Buben mehr und kontrolliert sie weniger. Aber auch für Gardi ist nicht alles geprägt von Zwang und negativen Erfahrungen.

      WOCHENEND- UND FERIENFREUDEN

      Die Tüchtigkeit von Vater und Mutter zahlt sich aus. Obwohl es am Rathausplatz einen alteingesessenen Konkurrenten gibt, der für alle im Ort hörbar den «Bauernsohn als Kaufmann» verspottet, beginnt das Modehaus Hutter schon bald zu florieren. Ende der 1950er-Jahre leisten sich die Eltern ein Feriendomizil: die Hälfte eines kleinen Bauernhauses auf dem Ruppen. Hutters gehören auch zu den wenigen, die schon ein Auto besitzen, einen Zweitakter DKW, der in Gardi Hutters Erinnerung furchtbar stinkt. Davor fahren die Eltern auf einer Lambretta, einem Roller, auf dem auch Erwin und Fredi als Kleinkinder auf Ausflüge mitgenommen werden.

      Im DKW wird den Kindern immer schlecht, wenn sie zu viert in den Wagen gequetscht werden. Auf langen Fahrten bekommen alle eine leere Heliomalt-Büchse auf den Schoss, für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, und dann wird gesungen, und zwar so lautstark und viel, dass die Kinder die Übelkeit vergessen.

      Am Samstag ist um 16 Uhr Ladenschluss, keine Viertelstunde später sitzt Familie Hutter im Auto und fährt die gut zehn Minuten hoch auf den Berg zum Ferienhaus. Alle haben noch schnell die Kleider gewechselt. Vom ordentlichen Gewand in ausgebeulte Lumpen. Der Ruppenpass führt hinter Altstätten in Richtung Appenzellerland. Die Aussicht vom Haus aus ist fantastisch und geht weit über das Rheintal. Alle sechs Hutters fühlen sich hier wohl.

      Das Gebäude ist sehr bescheiden, verfügt zunächst weder über fliessendes Wasser noch über Heizung oder Strom. Hier kann sich Bauernsohn Erwin Hutter verwirklichen. Er streicht, hämmert, zieht Leitungen ins Haus – alles wird selbst installiert und gebaut. «Meine Eltern mussten nie Hunger leiden, aber in ihrem Gedächtnis war sicher noch gespeichert, wie karg die Bauern ein, zwei Generationen vor ihnen gelebt hatten. Deshalb wurde alles aufgespart und wiederverwendet. Sie hatten es so gelernt und gaben es an die nächste Generation weiter. Sie waren nicht eigentlich geizig, aber sehr sparsam, wenn es um Kleinigkeiten im Alltag ging. Als dann später alle von Recycling redeten, mussten sie nichts dazulernen.»

      Das Haus am Ruppen und seine Umgebung hat Gardi Hutter als ihr Kindheitsparadies in Erinnerung: «Dort gingen wir morgens zu viert in den Wald und kamen abends wieder zurück.» Die vierköpfige Rasselbande tobt ums Haus, spielt in den beiden Baumhäusern, die Erwin und Fredi gezimmert haben, Räuber und Poli (Gendarm), Cowboy und Indianer. Gardi immer mittendrin. Solange die vier Kinder klein sind, stört es die Buben nicht, dass sie ein Mädchen ist, sie muss nicht die Squaw spielen. Doch als die älteren Brüder zu pubertieren beginnen, wollen sie irgendwann nicht mehr mit der kleinen Schwester spielen. Sie wird abgewiesen. «Wir spielen nicht mit Weibern», heisst

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