Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid

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Trotz allem - Gardi Hutter - Denise Schmid

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erinnert sich auch noch, wie sie eines Tages Leute reden hört, die am neuen Bungalow vorbeispazieren. Sie sagen, was für ein schönes Haus mit Garten das sei und was für ein Glück die Kinder dieser Familie hätten. Gardi ist beschämt und fühlt sich schuldig, weil sie am neuen Ort gar nicht so glücklich ist, wie sie es wohl sein sollte, sich nach anderem sehnt.

      Im Esszimmer des neuen Hauses hat der Architekt eine Eckbank eingeplant und dahinter drei Regale für Bücher. Aber bei Hutters gibt es kaum Bücher, und so geht Erwin Hutter in die Papeterie im Ort, die auch Bücher im Angebot hat, und bestellt «drei Meter Bücher». «Der Händler verkaufte meinem Vater wohl alle seine Ladenhüter, doch das zu einem sehr guten Preis. Bis zum Tod meiner Eltern sind diese Bücher auf dem Regal gestanden, und nie hat sie jemand gelesen. Es war eine Bibliothek zum Anschauen.»

      Gardi Hutter beginnt als Teenager zu realisieren, dass Bildung das Ticket für den gesellschaftlichen Aufstieg ist, und das unkultivierte Elternhaus ist ihr manchmal peinlich. Doch was sie als Jugendliche beschämt, sieht sie im Rückblick in einem anderen Licht: «Als ich 1995 den St. Galler Kulturpreis im Stadttheater erhielt, war der ganze Altstätter Gemeinderat anwesend. Meine Eltern, beide schon über siebzig, standen etwas verlegen, fast schüchtern daneben. Sie konnten sich in solchen Kreisen nicht unbeschwert unterhalten. Ich sah sie dort stehen und erkannte die zwei tapferen Bauernkinder, die alles gegeben hatten. Es rührte mich sehr.»

      VORBILD ROSALIE

      Gab es schon bisher viele Spannungen zwischen der kontrollierenden, strenggläubigen Mutter und der freiheitsliebenden Tochter, so nehmen sie im Laufe der Teenagerzeit noch zu. Umso mehr schätzt Gardi, dass es in ihrer Jugend ein Gegenmodell zu ihrer Mutter gibt: Rosalie Leupp, eine Freundin der Mutter. Gardi ist dankbar, wenn sie in der Familie Leupp ab und zu etwas andere Luft schnuppern darf. Rosalies Mann Theodor ist Chemiker und Theosoph, er arbeitet bei der Ems-Chemie. Die Familie lebt in Domat/Ems, und Gardi beschreibt Rosalie als Dame von Welt, als die einzige farbige Frauenfigur, die sie in ihrer Kindheit kennt. Leupps haben in Australien und Amerika gelebt, viel gesehen und erlebt. Die Freundin der Mutter schaut einmal im Jahr im Modehaus Hutter vorbei und kauft ein. Sie ist die Patentante von Erwin, und da sie immer heiss begehrte Bananen mitbringt, wird sie «Bananengotte» genannt. Gardi darf hin und wieder Ferien in Domat/Ems verbringen. Das geniesst sie sehr. Bei Leupps darf sie zum Frühstück so viel Zwieback mit Kirschmarmelade essen, wie sie möchte, und danach den ganzen Tag spielen. Aber es sind nicht nur die Freiheiten, die sie liebt, es ist auch der Eindruck, dass Rosalie Leupp sich für sie interessiert und von klein auf etwas Besonderes in ihr sieht. Gardi fühlt sich von ihr verstanden, gerade auch, als sie älter wird und zu rebellieren beginnt. Rosalie hört zu, diskutiert, nimmt sie ernst. Es tut Gardi gut, und sie sagt, sie habe die Freundschaft, die so entstanden sei, ein Leben lang weiter gepflegt und Rosalie bis ins hohe Alter besucht. Die ursprüngliche Freundschaft zwischen Irma Hutter und Rosalie Leupp beginnt mit den Jahren etwas zu bröckeln. Die Freundin scheint der Mutter etwas zu farbig und unkonventionell. Für Gardi aber ist und bleibt sie ein Anker, wenn sie schwierige Zeiten durchmacht. Dank ihr sieht sie auch, dass es andere Arten von Frauenleben gibt. Man kann sich anders kleiden, anders denken, offener und weniger strikt sein.

      So gespannt das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter lange Jahre ist – im Rückblick kann Gardi Hutter auch Verständnis aufbringen. «Meine Mutter hat sich im Laufe ihres Lebens mit der vielen Arbeit im Modehaus, mit uns vier Kindern und dem Bemühen, immer alles richtig zu machen, sehr viel abverlangt und ist dadurch verhärtet. Sie hat viel geleistet und die Familie immer an die erste Stelle gesetzt. Es war ein anstrengendes, aufopferndes Leben, und ich habe es ihr sicher nicht leichter gemacht.»

      KLEIDERSTREITIGKEITEN

      Woran entzünden sich die Streitigkeiten mit der Mutter? Häufig am Thema Kleider. Damit verdienen die Eltern Hutter ihr Geld. Sie kleiden die Menschen in Altstätten ein. Sie wissen, wie man Kleider herstellt und verkauft. Es ist ihr Territorium, ihre Kompetenz und deshalb vielleicht auch ihre offene Flanke. Niemand kennt die Eltern so gut wie die eigenen Kinder. Und so beginnt Gardi, je älter sie wird, ihre Mutter bei diesem Thema herauszufordern. Als Gardi noch klein ist, muss sie sonntags zur Kirche und auf dem Sonntagsspaziergang nach dem Mittagessen Kleidchen und Lackschuhe tragen und darf nicht mit den Brüdern herumrennen. Dann wächst sie heran, und nun soll sie zum sonntäglichen Kirchgang immer das Neueste aus dem Geschäft vorführen. Die Brüder dürfen zwar auch keine Jeans tragen, aber es ist dennoch einfacher. Ein guter Anzug, Hemd und Krawatte reichen. Aber Gardi soll mal den neuen kurzen, dann den neuen langen Mantel tragen. Sie lehnt sich auf, will keine wandelnde Kleiderstange sein. «Meine Mutter und ich hatten jeden Sonntag Krach, es ging darum, was man in die Kirche anzieht. Und man darf nicht vergessen, Altstätten ist nicht Paris, meine Eltern hatten ein Kleinstadtgeschäft. Das meiste war Durchschnitt, es musste ja für eine breite Kundschaft passen. Daneben kauften sie vielleicht noch zwei, drei Modelle ein, die gerade als modisch galten, wenigstens in einer abgelegenen Kleinstadt. Und diesen letzten Schrei sollte ich dann tragen und fand es, je älter ich wurde, desto peinlicher. Selten war mal ein Stück darunter, das ich gerne ausführte. Ich wehrte mich, und es gab oft heftigen Streit. Ich merkte schon sehr früh, dass ich nie durfte, wie ich wollte, und die Mutter hat immer gestöhnt, ich sei von klein auf widerspenstig gewesen.»

      Zu den verzweifelten Bemühungen der Mutter, aus Gardi ein wohlerzogenes, braves Mädchen zu machen, passt der Spruch, den sie der Tochter im Januar 1965 sorgfältig in Schönschrift ins Poesiealbum schreibt: «Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab, dies erwartet Deine Mutti».

      Ein deutlicher Beleg dafür, was Gardi Hutter in privaten Aufzeichnungen dreissig Jahre später festhält und in den Gesprächen für dieses Buch fünfzig Jahre später erzählt: Sie erfährt als Kind nie bedingungslose Liebe. Anerkennung und Liebe werden in ihrer Erziehung an Voraussetzungen wie Wohlverhalten, Mithilfe und Gehorsam geknüpft. Das provoziert lange Zeit ihren Trotz, worauf die Mutter mit noch mehr Strenge reagiert – eine Abwärtsspirale.

      Im Frühling 1966 beendet Gardi Hutter die sechste Klasse in der katholischen Mädchenschule in Altstätten. Sie könnte nun die lokale Sekundarschule besuchen, aber die Eltern beschliessen, dass sich etwas ändern müsse, bevor das widerspenstige Kind völlig aus dem Ruder läuft.

      Für die 13-jährige Gardi Hutter, das «Bubenmädchen», das den grossen Brüdern nacheifert, sich ihre Freundinnen selbst aussucht und hinter dem Rücken der Eltern ihrem eigenen Kopf nachlebt, scheint ein Internat die beste Lösung. Betrachtet man aus heutiger Perspektive Gardi Hutters Schulzeugnisse, kann man sich nur wundern, weshalb man sie nicht direkt auf ein Gymnasium sandte. In jedem Fach stehen jeweils eine Fleiss- und eine Leistungsnote. In Fleiss hat sie durchwegs die Höchstnote Sechs. Bei den Leistungsnoten sieht es nicht viel anders aus, da wechseln sich Sechsen und Fünf bis Sechsen ab. Die tiefste Note im letzten Zeugnis der Primarschule ist eine Fünf im Schreiben. Sie ist eine Topschülerin, und ihre Noten spiegeln wider, was sie erzählt: dass sie unheimlich gerne zur Schule gegangen sei und gelernt habe. Doch eine höhere Bildung steht der Tochter erst einmal nicht offen. Und weil es kein Gymnasium vor Ort gibt, gehen auch die Brüder Fredi und Gilbert erst einmal in die Sekundarschule und wechseln danach auf eine Mittelschule etwas weiter weg in St. Gallen oder Sargans. Fredi erzählt, dass sich allerdings nicht die Eltern um seine höhere Bildung gekümmert hätten; es seien die Lehrer gewesen, die ihm aufgrund seiner guten Leistungen nach der Sekundarschule dazu geraten hätten.

      Doch bei Gardi geht es nach der sechsten Klasse zunächst mal um ihren Widerspruchsgeist. Das wilde Kind soll gezähmt werden, bevor aus ihr eine noch wildere junge Frau wird. Stella Maris heisst ein katholisches Mädcheninternat in Rorschach. Es liegt nicht allzu weit entfernt, wird von Menzinger Schwestern geführt und geniesst einen guten Ruf. Dort soll sie die Sekundarschule besuchen, und die Nonnen sollen richten, wofür die Eltern zu wenig Zeit haben: aus der eigensinnigen Gardi Hutter eine fromme, wohlerzogene junge Frau machen.

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