Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
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Als Gardi so weit ist, schärfen ihr die beiden grossen Brüder ein, dass sie nicht nur schlimme Taten beichten müsse. «Meine Brüder waren gemein. Sie lagen mir ständig in den Ohren damit, dass nur schon ein unkeuscher Gedanke Sünde wäre, weil Gott alles sehe, auch das, was ich nur schnell gedacht hätte. Und so quälte ich mich mit allen möglichen und unmöglichen Sünden. Es war nicht mal erlaubt, daran zu denken, einen Jungen zu küssen. Über Schuldgefühle stolpere ich heute noch. Das war für mich das Schwierigste aus meiner Erziehung: das wieder loszuwerden.»
Die Fotos vom grossen Tag zeigen eine wunderbar brave Gardi auf dem offiziellen Kommunionsfoto im langen, weissen Kleid mit Handschuhen, Rosenkranz, einer Kette mit Kreuz um den Hals und weissem Schleier auf dem Kopf; ein unschuldiger, leicht verkrampfter kleiner Engel.
Das erste Mal die Hostie zu bekommen, sie auf der Zunge zu spüren. Gardi weiss noch, wie ernst und innig dieser Moment in der Kirche damals für sie war: «Die Vorstellung, dass ich mit der Hostie den Leib Jesus in mich aufnehme, daran habe ich nicht nur geglaubt, ich habe ihn gespürt.» Dreissig Jahre später wird sie in ihren Aufzeichnungen festhalten, wie schön sie sich damals in dem weissen, langen Kleid fühlte, wie eine Prinzessin. Aber nach der Kirche fährt die Familie ins Ferienhaus auf den Ruppen, und Gardi muss das Kleid ausziehen. Sie will nicht, aber sie muss: «Ich höre noch meine Mutter schimpfen: ‹Tu nicht so hochmütig.› Ich heulte, erst laut, dann immer leiser und war den ganzen Tag traurig – und bin es heute noch, wenn ich daran denke. Einer der seltenen Momente, in denen ich mich schön gefühlt habe.» Aber: Frömmigkeit war gefragt. Eitelkeit war Sünde und verpönt.
Jungen dürfen nach der Erstkommunion Ministranten werden. «Ich hätte wahnsinnig gerne ministriert, mit grossem Ernst das Weihrauchfass geschwungen und die Glocken geläutet», sagt sie, aber das geht natürlich nicht. Es ist den Jungen vorbehalten, weil Mädchen «von Natur aus schmutzig» sind. Was genau an Mädchen schmutzig ist, dass es mit der Menstruation zusammenhängt, so weit geht die Erklärung nicht, und Gardi ist zu jung, um solche Regeln zu hinterfragen. Später aber entwickelt sie eine grosse Wut auf das körper- und frauenfeindliche Diktat der Kirche.
Doch so weit ist es noch nicht. Als Kind ist Gardi Hutter wie gesagt tiefgläubig. Gott, den Teufel, die Sünde, all das gibt es in ihrer Vorstellungswelt. Bis sich ein erster leiser Zweifel einschleicht. Sie kann sich noch an ihre Empörung erinnern: «Es hiess, dass ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kommen. Sie kommen in eine Zwischenwelt, den Limbus, und bleiben dort für immer und ewig. Ich fand das ungerecht: Sie können doch nichts dafür. Es sträubte sich alles in mir. Ich fragte nach und wurde gerügt. Zweifeln war Sünde und ebenso wenig erwünscht wie Auflehnung. Was in der Kirche gesagt wurde, das galt, und der Papst konnte nicht irren, denn er war ja der Vertreter Gottes.»
Nach längeren internen Diskussionen und einem 41 Seiten langen Bericht stimmt Papst Benedikt XVI. 2007 schliesslich der Auffassung zu, dass der Limbus nur eine «theologische Hypothese» sei und kleine Kinder, die ungetauft sterben, direkt ins Paradies kämen. Gardi Hutter ahnte es schon fünfzig Jahre früher.
Zur Kirche und ihren Traditionen, ihren Zwängen, Auswüchsen, aber auch zu den inspirierenden Seiten hat Gardi Hutter viel zu erzählen. Aus der heutigen Warte beleuchtet sie die Mechanismen dahinter kritisch, vor allem das Frauenbild: «Die drei grossen Weltreligionen aus dem Vorderen Orient haben alle zum Ziel, den Mann als dominierende Figur zu platzieren und die Frau zu unterwerfen. Im Christentum gibt es den Gottvater und seinen Sohn und dann noch Maria. Aber sie ist keine Göttin, sondern nur eine Art keusches ‹Gefäss›. Je weiter wir in der Menschheitsgeschichte zurückgehen, desto mehr weibliche Gottheiten finden sich. Noch bei den Griechen sind sie starke Persönlichkeiten, werden dann aber immer dekorativer.» Sie ereifert sich, wenn sie darüber spricht. «Die Idee der unbefleckten Empfängnis, wie abstrus ist das denn? Ist Empfängnis, also ein Kind zu zeugen, im Normalfall befleckt? Dieser schönste und heiligste Akt unseres Lebens? Wenn ich mir überlege, wie viele gebildete Männer als Exegeten ihr Leben und ihre Intelligenz dazu benutzt haben, um solchen Unsinn hinzubiegen und in unfehlbare Argumente zu verpacken! Dabei geht es am Ende doch nur um Machtpolitik. Wenn es im Himmel keine Göttin gibt, gibt es auf Erden auch keine. Das ist letztlich extrem raffiniert ausgedacht.»
INSPIRATION FASNACHT
Doch Gardi Hutter berichtet auch von Positivem aus diesem katholischen Umfeld. Weihnachten, die verschiedenen Prozessionen und die Altstätter Fasnacht gehören dazu. Ein paar Tage vor Weihnachten ist das Wohnzimmer jeweils plötzlich zugesperrt. Dann wissen die Kinder, dass das Christkind jetzt daran ist, alles vorzubereiten. «Wir äugten natürlich durchs Schlüsselloch, und einmal sah ich tatsächlich ein Zipfelchen vom Christkind, ich war mir ganz sicher. Das Kindlein, das sonst in der Windel in der Krippe lag, flog durch den Raum, dekorierte und brachte die Geschenke, so stellte ich es mir vor. Nach unendlich langem Warten ging an Heiligabend dann endlich die Tür auf, die Kerzen brannten am Baum, die Geschenke lagen da. Es war jedes Mal eine Verzauberung. Dann wurden alle Weihnachtslieder rauf und runter gesungen, und jedes Kind musste ein Gedicht aufsagen. Es wurde Blockflöte und Handorgel gespielt, und irgendwann durften wir endlich die Geschenke auspacken.»
Als optisch schöne katholische Bräuche hat Gardi Hutter die Prozessionen am Palmsonntag und zu Fronleichnam in Erinnerung. Eine Woche vor Ostern wird mit dem Palmsonntag die Heilige Woche eingeleitet. Die Buben dürfen mit Buchszweigen grosse Gestänge binden, die sie an der Prozession tragen. Für die Mädchen gibt es kleine Blumenkörbe. Gardi beneidet einmal mehr die Brüder um die eindrücklichen Kreuze, die manchmal zwei bis drei Meter hoch sind.
Die Prozession wird durch das Städtchen geführt. Strassen und Plätze werden mit frischem Buchenlaub, mit Gräsern und Blumen geschmückt, richtige Blumenteppiche werden auf dem Weg der Prozession ausgebreitet. Die Hausbesitzer wetteifern um die schönste Dekoration, Hutters gehören dazu. Beim Umzug gehen vorneweg die Geistlichen und Ministranten, dahinter weiss gekleidete Mädchen. «Wir waren in unserer Jugend auf vielen Prozessionen, nicht nur am Palmsonntag und zu Fronleichnam, auch zur Forstkapelle, zur Flurbegehung, zum Weissen Sonntag und so weiter. Das ist aus heutiger Sicht eine Form von erlebtem, empfundenem und visualisiertem Glauben. Es waren kollektive Rituale, die für meine Kinderseele sehr nährend waren. Inszenierungen von grosser Symbolkraft, dem Theater sehr verwandt.»
Und dann die berühmte Altstätter Fasnacht, sechs Tage Ausnahmezustand, ein buntes, wildes Treiben mit fester Abfolge von Umzug, Polonaise, Beizentour und Bööggverbrennen, mit Mehl- und Gerstensuppe, Berliner Pfannkuchen, Punsch, Fasnachtschüechli und sehr viel Alkohol. Die Fasnacht in Altstätten ist weder die grösste noch die älteste der Schweiz. Aber mit einer Tradition, die auf ein erstes schriftliches Zeugnis von 1617 zurückgeht, der Vielfalt an Aktivitäten und den optisch auffälligen Röllelibutzen gehört sie zu den originellsten im Land; der gleichnamige Verein existiert seit 1919.
Auch die Fasnacht ist in Altstätten eine klar männlich dominierte Veranstaltung. Junge Frauen dürfen als sogenannte Ehrendamen eine Nebenrolle spielen: «Obwohl die Ehrendamen nun seit hundert Jahren als schmucker Teil zu den Auftritten und den Polonaisen gehören, sind diese nicht Mitglieder des Vereins. Eine Mitgliedschaft im Verein ist seit der Gründung nur Männern vorbehalten», heisst es dazu in einem neueren Buch. Seit 2004 finden die Ehrendamen zumindest Erwähnung in den Vereinsstatuten. Und in ihren langen, weissen Kleidern stehlen sie den herausgeputzten Herren gewiss nicht die Schau.
Ein Röllelibutz trägt weisse Hose, schwarze Jacke, quer über die Schultern farbige Brustbänder, eine fleischfarbene Drahtmaske und auf dem Kopf den Butzenhut, einen elaborierten Kopfschmuck mit glänzenden Perlen, Früchten, Blumen, Bändern und Federn. Um die Hüften wird das Geröll getragen, ein Lederband mit Schellen, die beim Herumspringen tönen. Hinten aus der Jacke tritt eine dunkelrote Quaste. Dann das Wichtigste: die Wasserspritze.