Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
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Im Sommer wird im kleinen Pool, den der Vater ausgehoben und eigenhändig ausgekleidet hat, gebadet und gespritzt. Ein grosser Magnet für die Bauernkinder aus der Umgebung.
Der Vater ist ein begeisterter Wanderer und Bergsteiger. Die Familie unternimmt kleinere und grössere Touren. Die Kleinen werden auf dem Rücken mitgetragen. Und später, als die Kinder heranwachsen, macht der Vater oft auch ausgedehntere Bergtouren mit den vier Kindern. Die Mutter bleibt im Tal. Sie geht spazieren und einkaufen, fern von den Altstätter Kleingeschäften sogar in die sonst verbotene Migros.
Erwin Hutter ist Mitglied im Schweizer Alpen-Club SAC, der Nachwuchs im Alpen-Jugendclub. Es wird nicht nur gewandert, sondern auch geklettert. Gardi Hutter ist bis in ihre Teenagerjahre mit dabei und liebt die Berge ebenso sehr wie ihr Vater und die Brüder. Erwin und Gilbert machen als Erwachsene beide die Ausbildung des SAC zum Bergführer, leiten immer wieder Touren und pflegen das vom Vater angestiftete «Familienhobby» ein Leben lang.
Und natürlich wird auch Ski gefahren. Der Vater lernt zwar erst spät Ski fahren, mit Ende dreissig, aber noch rechtzeitig, um es mit seinen Kindern zu geniessen. Von Altstätten aus führt eine Schmalspurbahn bergauf Richtung Gais. Sobald es genügend Schnee hat, nehmen die Schulkinder an schulfreien Nachmittagen oder am Samstag den kleinen Zug, fahren auf die Höhe, den Stoss, und sausen hinunter. Ein Heidenspass, den ganzen Winter lang.
Ein Auto, ein Ferienhaus, bald einmal auch einen Fernseher – in einem abschliessbaren Schrank – und erste Auslandsferien kann sich Familie Hutter dank des wachsenden Wohlstands Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre leisten. Das Modehaus Hutter ist eines der ersten Geschäfte im Ort, die im Sommer zwei Wochen schliessen und ein Schild an die Tür hängen: «Wegen Ferien geschlossen». Mit dem DKW geht es mal nach Ascona zum Camping und bald darauf bis nach Italien ans Meer, die Heliomalt-Büchsen immer mit dabei. Zeltferien an der Adria in Cattolica und Jesolo, am breiten Strand mit endlos vielen Schirmen und Liegen. Auslandsferien – ein Abenteuer mit Meer und Sand, Gelati und Pizza und einer ungewohnten Sprache. Ein Foto von einem Ausflug nach Venedig zeigt die Kinder zu Füssen einer Löwenstatue. Die kleine Gardi schaut skeptisch hoch. Ist der Löwe wirklich aus Stein, wird er nicht vielleicht doch noch lebendig? Sie kann sich noch heute an die Furcht erinnern – ihre lebhafte Fantasie.
Neben den sportlichen Betätigungen und den Ferienfreuden ist das Singen eine weitere Spezialität im Familienleben der Hutters. Ob beim Geschirrabwaschen, abends im Wohnzimmer, auf Autofahrten oder beim Wandern, Familie Hutter singt Volkslieder, Kinderlieder, Wanderlieder, Soldatenlieder und am Jahresende voller Inbrunst Weihnachtslieder – das Repertoire ist gross. Die Mutter hat eine schöne Altstimme und singt oft die zweite Stimme. Zu sechst bildet man schon fast einen kleinen Chor, wobei der Vater eher mitsummt als singt. Gardi Hutter kennt die meisten Liedtexte heute noch und denkt mit leichter Wehmut zurück an die Selbstverständlichkeit, die im gemeinsamen Gesang lag. «Wir hatten bis Anfang der 1960er-Jahre keinen Fernseher, es gab wenig Ablenkung, die Abende waren lang. Im Sommer spielte man draussen. Im Winter wurde gejasst, wir spielten Eile mit Weile, Mühle und Dame oder beteten Rosenkränze. Man konnte auch einfach mal nur dasitzen und sich etwas umschauen. Undenkbar im Vergleich zur heutigen Intensität unseres Alltags. Es war zwar langweiliger, aber psychologisch sicher einfacher.»
Musik bildet zwar einen Teil des kindlichen Erfahrungsschatzes, aber nur ganz bestimmte Arten von Musik: Volkslieder, Kirchenmusik und Volkstümliches auf Radio Beromünster. Sobald es klassisch wird, wird der Apparat abgedreht. Mozart oder Beethoven gibt es bei Hutters nicht, klassische Musik ist ihnen fremd. Bei Opern halten sich alle die Ohren zu, und modernere Klänge, wie amerikanischer Jazz oder Elvis Presley, gelten als «Schund» und werden von der Familie ferngehalten. «Schund» ist in jener Zeit eine Klammer für alles, was nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch abgründig scheint.
DER REIZ DES VERBOTENEN
1958 kommt die kleine Gardi in den Kindergarten. Den Weg darf sie ganz alleine machen, und sie ist stolz darauf. Der Kindergarten gefällt ihr sehr, insbesondere die kleinen, an die Kinder angepassten Toiletten. An jeder Tür ist ein anderes Märchenmotiv. «Das gefiel mir. Ich überlegte mir vorher immer, ob ich nun heute beim Dornröschen oder bei Schneewittchen mein Pipi machen sollte.» Man darf den ganzen Tag spielen und muss nicht helfen – ein weiterer Vorteil. «Bei uns daheim musste ich ja immer zuerst etwas erledigen, bevor ich spielen durfte.»
Nach zwei Jahren Kindergarten beginnt 1960 die Schule, und die besucht Gardi fast noch lieber. In der katholischen Mädchenschule in Altstätten wird sie in den ersten Jahren von Nonnen aus dem lokalen Kapuzinerkloster Maria Hilf unterrichtet, in Klassen mit vierzig und mehr Kindern. Disziplin ist auch in der Schule das oberste Gebot. Die Nonnen greifen streng durch. Wer stört, muss in die Ecke oder bekommt mit dem Lineal eins auf die Hand.
In der fünften Klasse kommt Gardi zu Herrn Schwarz. Auch er ist streng, aber alle lieben ihn: endlich ein Laie – und ein Mann. Er veranstaltet Wettbewerbe im Kopfrechnen, die entweder Ruthli oder Gardi gewinnen – und immer die Gleichen verlieren. Ihr beginnen die Unterschiede zu Kindern aus ärmeren Familien aufzufallen. «Die Kugelgasse, das war sozusagen das Armenviertel von Altstätten. Eine Strasse auf der anderen Seite der Altstadt mit kleineren, gedrungenen Häusern. Für die Kinder, die von dort kamen, muss die Schule besonders schlimm gewesen sein. Sie trugen den Stempel, Armeleutekinder zu sein; und sie kamen häufig nur schlecht mit. Wie sich die Kinder in der Klasse gruppierten und zusammensassen, spiegelte von klein auf die sozialen Schichten der Stadt. Wer etwas in der Stadt galt und wer nichts, wer verachtet wurde, wer nicht – es hatte immer mit Geld zu tun.»
Gardi Hutter sagt, dass ihre Familie zwar zu einer oberen Schicht im Städtchen gehörte, aber ganz akzeptiert seien sie trotzdem nicht gewesen. «Wir waren Neureiche. Wir hatten zwar das Geld, aber uns fehlte die Kultur. Als Kaufleute gehörten wir zur Kleinbürgerschicht, aber es lag immer eine Art Schatten auf uns.»
Gardi wird zur Pendlerin zwischen den Welten – aus Neugierde, und vielleicht reizt sie das Verbotene. Sie spielt gerne mit Freundinnen in der Kugelgasse, auch weil es ein wenig gefährlich und unberechenbar ist. Die Häuser sind oft dunkel und feucht, es riecht anders. Die Mutter darf nichts davon erfahren. Die Eltern einer ihrer Freundinnen aus der Schule führen ein Wirtshaus. Gardis Mutter sieht auch diesen Umgang nicht besonders gerne.
Am liebsten ist es der Mutter, wenn Gardi mit der Tochter einer der angesehensten Familien im Ort zusammen ist. Die Familie besitzt eine Glaswarenmanufaktur. «Sie hatten ein grosses, ehrwürdiges Haus in der Altstadt und ganz dicke Teppiche auf der Treppe, die jeden Ton schluckten, sodass man keinen Tritt mehr hörte. Es gab Holztäfer, Kerzenständer, Porzellan hinter Glas und eine Bibliothek. Das hat mich alles enorm beeindruckt. Die Mutter servierte uns etwas zu trinken, wenn wir dort waren. Das war für mich unfassbar. Meine Mutter hätte uns Mädchen nie etwas serviert, im Gegenteil. Wenn ich Besuch hatte, musste nicht nur ich mithelfen, sondern auch meine Freundin wurde mit eingespannt.» Und dann gibt es noch eine andere Tochter aus gutem Haus, bei der Gardi oft aus einem ganz bestimmten Grund ist. Mickey-Mouse-Hefte sind bei Hutters verboten – Stichwort: Schund. Jedes gefundene Heft wird sofort verbrannt. «Meine Freundin aber hatte einen Schrank voll davon. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, den Schrank zu öffnen, und da lagen stapelweise Mickey-Mouse-Hefte – das Paradies. Ich nahm gleich zwanzig Hefte auf die Knie und versank darin.»
DU SOLLST NICHT ZWEIFELN
Im März 1962 wird Gardi neun Jahre alt. Bald darauf findet die Erstkommunion statt. Davor muss man das erste Mal beichten und von da an regelmässig einmal pro Monat. Von all der Schuld, die man immer wieder auf sich