Kirche. Группа авторов

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regelmäßig verortet, dies mithilfe der Trias aus Eigenort-Idiotopie, Sehnsuchtsort-Heterotopie und Unort-Utopie, wo sie sich also oft, selten bzw. nie aufhält, dies auch im Blick auf real aufsuchbare Zürcher Kirchen. Die dritte Anforderung fragt, welche Zeitdramaturgie die Regelwoche einer Lebenswelt prägt, einerseits im Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit, andererseits im Umgang mit Zeitfenstern wie Eigenzeit, Paarzeit, Familienzeit und Sozialzeit, dies auch im Blick auf die real gegebene kirchliche Zeitlichkeit. Die vierte Anforderung schließlich variiert den Slogan Wir sind das Volk!, indem sie wissen will, wie eine Gemeinde aussähe, wenn eine Lebenswelt sagen dürfte Wir sind die Kirche!

       Kirche und Kommerz

      Die Hauptkritik an der Zürcher Sinusstudie war K.-u.-K.-Kritik: Kirche biedere sich dem Zeitgeist an, lasse sich wie alle nun auch ökonomisieren, hole sich naivlings und hinterrücks Denkvoraussetzungen ins Haus, die ihr theologisch verboten seien, und erwarte Remedur genau von der Seite, die sie in Wahrheit beschädige.

      Ich kann die Sorge verstehen, teile aber die Kritik nicht. Die Sinusstudie ist eine Sehhilfe. Nicht theologische Argumentation bedient sich ihrer, sondern instrumentelle Vernunft. Niemand wird bestreiten, dass für die Renovation oder den Neubau einer Kirche besser eine Architektin gefragt wird als eine Pfarrerin, wenn auch die Architektin für Fragen der Expressivität besser eine Theologin zu Rate zieht als eine Werbeagentur. Die Studie hilft zu sehen, wie die Menschen sind, stellt aber nicht die anthropologischen Grundfragen des Menschseins. Kirche hat es in Jahrhunderten verstanden, sich verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit nutzbar zu machen, ohne ihre raison d’être schon deshalb aus dem Auge zu verlieren. So auch hier!

      Die Nutzung der Studie deckt allerdings die denkwürdige Situation auf, dass längst eingetreten ist, wovor Kritiker der Studie warnen: die Ökonomisierung des ganz normalen Verhaltens im kirchlichen Alltag. Längst ist sie auch kirchlich selbstverständlich: die stille Verwandlung von Leistungen in Waren, von Gelegenheiten in Angebote, von Gliedern in Kunden, von Erfahrung in Unterhaltung, von Beteiligung in Konsum. Oft wird Kirche veranstaltet statt gelebt, Wort konsumiert statt geglaubt, Gemeinde inszeniert statt gebaut. Kirche ist aber kein service public, auch wenn sie faktisch, etwa im Kasualbereich, oft so genutzt wird. Kirche ist keine Dienstleisterin, indem sie spirituelle Waren und diakonische Hilfe über ein dichtes Filialnetz distribuiert. Kirche ist kein Kulturbetrieb, der ein Programm bietet und nach Einschaltquoten gestaltet. All dies auch zu können, tut der Kirche gewiss gut, ist aber nicht ihre raison d’être. So ist es geradezu das Alleinstellungsmerkmal einer Sinusstudie, die von Profitorientierten wie Nonprofitorientierten gleichermaßen genutzt wird, dass sie die latente Profithaltung von vielen Nonprofitorientierten ebenso aufdeckt wie die latente Nonprofithaltung von wenigen Profitorientierten!

       Anglikanische Entdeckungen

      Im Sommer 2011 nahm mich der Verantwortliche für die Ausbildung der Pfarrschaft mit auf die Reise. Sein Vikariatskurs sollte mit einem Besuch diverser Fresh Expressions of Church in London, Sheffield, Manchester und Liverpool zu Ende gehen. Besuche und Lektüren führten zu einer überraschenden Nähe: Was der mental-habituelle, der ethnologisch und sozialwissenschaftlich basierte Ansatz der Sinusstudie nahelegt, nämlich die postmoderne Frage how people are zu stellen statt der vormodernen Frage where people are, und was dann die Antworten aus größtmöglicher Nähe zu den Leuten erbringen, genau das ist bei den Fresh Expressions bereits Praxis und daher gut zu studieren. Sie tun, was Sinusstudien nahelegen. Sie sind den Menschen so nahe und mit ihnen so unterwegs, wie man sein muss, wenn man verstehen will, wie sie ticken. Sie liefern Empirie und Anschauung, während die Studie die soziologische Verortung auf der mental-habituellen Karte der Region ermöglicht. Sie ermutigen, sich zu den unbekannten Stämmen der terra incognita aufzumachen, während die Studie sicherstellt, dass nicht nur gewisse, sondern alle Lebenswelten in den Blick kommen. Sie veranschaulichen, wie gründlich der Perspektivenwechsel von der vormodernen Institution zum postmodernen Individuum sein muss, während die Studie die Unumkehrbarkeit der Entwicklung vom 19. ins 21. Jahrhundert aufweist.

      Die englische Reise hatte Folgen. Im Zwillingsband der Orientierungshilfe sind in Gestalt eines Reiseberichts die besuchten Fresh Expressions beschrieben und lebensweltlich gemäß der englischen Milieulandschaft verortet. Interviews mit ähnlichen Gruppierungen, die es in der Schweiz bereits gibt, stehen neben Interviews mit Verantwortlichen, die in ihrer Region mit Sinusstudien arbeiten und bereits lebensweltlich unterwegs sind. So entstand der dritte Teil mit dem Titel Erfahrungen. Er möge Gemeinden ermutigen, sich auf den Weg zu machen.

       Milieusklerose

      Der Befund der Sinusstudie wird von den Fachleuten freundlich und weich eine Milieuverengung genannt. Unfreundlich und hart kann man ihn auch als Krankheitsbild auffassen und als institutionelle Milieusklerose diagnostizieren. Die zweieinhalb traditionell-konservativen Lebenswelten sind handlungsleitend. Sie steuern alle Expressivitäten und Investitionen. Sie beanspruchen alle Ressourcen. Sie bestimmen und erhalten die Monokulturen in vielen Bereichen. One size fits all! Sie pflegen einen morphologischen Fundamentalismus, als habe der Heiland höchstselbst verfügt, was ihnen als Regelfall von Kirche gilt. Sie haben seit den Sechzigern des 20. Jahrhunderts eine unsichtbare Diktatur des ihnen Sichtbaren errichtet.

      Um ein Beispiel zu bringen: In der Stadt Zürich stellen die beiden Lebenswelten der Postmateriellen und der Experimentalisten 57 % der Gesamtbevölkerung. Von 100 % Steuersubstrat und 100 % Staatsbeitrag, die dem Verbund der 34 Kirchgemeinden als Ressourcen zur Verfügung stehen, kommen aber mutmaßlich mindestens 75 % den beiden traditionell-konservativen Lebenswelten zugute, die in der Stadt nicht einmal 10 % der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wen wundert es noch, dass Menschen austreten? Wer nicht vorkommt, ist eigentlich schon gegangen.

      Milieuinkongruenz ist der zweite bedenkliche Befund der Fachleute: Wer einen kirchlichen Beruf ausübt, gehört in der Regel zur Lebenswelt der Postmateriellen. Diese Dissoziation kann bedeuten, dass er Kirche für Fremde veranstaltet statt mit Eigenen Kirche zu sein, dass er Angebote für eine Lebenswelt produziert, die ihm eigentlich wesensfremd ist. In jedem Fall fördert Milieuinkongruenz die stille Ökonomisierung der Kirche. Die Standardfragen jeder naiven Umfrage entsprechen dem: Wie finden Sie uns? Was hätten Sie denn gerne von uns? Zudem führt Milieuinkongruenz die Berufsperson in die Zerreißprobe: Macht sie es milieusensibel und lebensweltlich sehr gut, riskiert sie, sich selbst expressiv zu verlassen und selbst spirituell zu verhungern. Würdest du in deinen eigenen Gottesdienst gehen?, ist dafür die Gretchenfrage.

      Freikirchen leiden übrigens ebenso an Milieusklerose, nur in einem anderen Milieu: Sie erreichen gut die Lebenswelt der Bürgerlichen Mitte, kommen aber mit ihrer Expressivität und trotz ihren Investitionen kaum über ihren Einzugsbereich hinaus. Die englischen Fresh Expressions, von denen sich mindestens 50 % evangelikal gebärden und verstehen, also zur Lebenswelt des Quiet Peaceful Britain zu zählen wäre, müssen sich, lebensweltlich betrachtet, daher fragen lassen, ob sie die Mission-shaped Church tatsächlich mit allen Lebenswelten verwirklichen oder nur einmal mehr alle anderen für Quiet Peaceful Britain erwecken und bewegen.

       Öffnungspotenziale

      Welche Potenziale zum Spielen kommen, sobald die Enge der kerngemeindlichen Provinz verlassen und die Weite aller Welt riskiert wird, ist von den Fresh Expressions allerdings eindrücklich zu lernen: Sobald Beziehung und Beteiligung in der ersten Reihe spielen, treten Ressourcensorge und Verteilkampf in die zweite oder dritte Reihe zurück. Der gewöhnliche Fall entpuppt sich als Stellvertreterschauplatz: Wo es nur noch um Ressourcen geht, ist längst der Auftrag entglitten. Sind aber Beziehungen

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