Der Mann, der Troja erfand. Leoni Hellmayr
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Drei Monate hat Schliemann für seine Reise von St. Petersburg nach San Francisco benötigt. Wie lange er bleiben will, ob er Kalifornien jemals wieder verlassen wird, darüber will er nicht nachdenken – noch nicht. Ein starker Wind weht über die Abhänge zwischen den Holzhäusern. Egal, wohin man blickt, überall sind Menschen unterwegs, unterhalten sich oder kommen aus den Geschäften, in denen sie sich für die Weiterreise zu den Goldfundstellen mit dem Nötigsten versorgt haben. Schliemann hört im Vorbeigehen das Hämmern und Klopfen von den Bauarbeiten an neuen Unterkünften. Er schnappt Gesprächsfetzen auf in unterschiedlichsten Sprachen, von denen er zu seinem Erstaunen einige nur erraten kann. Nach den vielen Wochen auf See und der untätigen Warterei preschen die Neuankömmlinge ungestüm in die Stadt, witternd, dass man schnell sein muss, um eine günstige Gelegenheit beim Schopf zu packen. Wie ein emsiger Bienenstaat hatte sich San Francisco innerhalb von zwei Jahren von einem Dorf zu einer geschäftigen Stadt entwickelt. Das Knistern in der Luft macht Schliemann wieder munter.
*
An einem heißen Tag reiten zwei Männer durch die Frontstreet von Sacramento. Sie haben struppige Vollbärte, sind von der Sonne braun gebrannt und tragen zerschlissene Hosen, erdverkrustet bis zu den Schenkeln hoch. Sie sind auf zwei schwer beladenen Maultieren unterwegs, deren Hufe auf dem trockenen Boden kleine Staubwolken aufwirbeln. An der Ecke zur I-Street ziehen die Männer fest an den Zügeln und steigen ab. Die müden Tiere werden vor einem Wassertrog festgebunden, aus dem sie sogleich gierig saufen. Mit jeweils einem kleinen Säckchen in der Hand betreten die Männer das Bankgeschäft an der Straßenecke. Während draußen in der Mittagsglut nahezu niemand unterwegs ist, herrscht im Inneren des Hauses großes Gedränge. Noch im Türrahmen bleiben die Männer stehen und müssen erst einmal abwarten, bis genügend andere Personen den überfüllten Raum wieder verlassen haben.
Als sie endlich am Schalter ankommen, werden sie von einem Bankangestellten mit hartem Akzent begrüßt. Die Männer öffnen die beiden Säckchen und schütteln sie vorsichtig aus, bis es auf dem Tisch zu glitzern beginnt. Der Bankangestellte, ein Spanier, bewegt mit dem Zeigefinger vorsichtig die kleinen Steinchen hin und her, nimmt schließlich eines davon in die Hand und schaut es sich mit zusammengezogenen Augenbrauen genauer an. Während die Männer geduldig vor ihm warten, werfen sie sich für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick zu. Der Spanier entschuldigt sich für einen kurzen Moment und verschwindet in einem Nebenraum. In Begleitung eines weiteren Mannes kehrt er wieder zurück. Offenbar handelt es sich um den Inhaber des Geschäfts. Recht jung sieht er aus, vor allem wegen seiner kindlichen Größe und den schmalen Schultern. Fast jede andere Person im Raum überragt ihn um einen ganzen Kopf. Er begrüßt die beiden Kunden freundlich und blickt ihnen fest in die Augen, bevor er sich den Steinchen auf dem Tisch widmet. Gold soll das also sein, meint er, wobei er eher zu sich selbst spricht als zu den beiden Besitzern. So, wie es der Spanier zuvor getan hat, bewegt auch er das vermeintliche Gold zunächst mit den Fingerspitzen hin und her, bevor er es einem prüfenden Blick unterzieht. Von dem ungeduldigen Stimmengewirr in der Warteschlange lässt er sich nicht beirren. Kurz darauf legt er die Steinchen wieder auf den Tisch und würdigt sie keines weiteren Blickes mehr. Der freundliche Ton ist verschwunden, als er den beiden Herren mitteilt, dass sie nicht miteinander ins Geschäft kommen werden. Wie zufällig blitzen für einen Augenblick ein Colt auf der einen und der Griff eines Jagdmessers auf der anderen Seite seines Gürtels auf, als er seine Jacke sorgfältig zurechtrückt. Die Männer sind zwar etwas verdutzt, aber nicht schwer von Begriff. Ohne Widerworte sammeln sie den Inhalt der Säckchen ein und verlassen den Raum.
Schliemann klopft seinem Angestellten kurz auf die Schulter, bevor er wieder in den Nebenraum geht und der nächste Kunde am Schalter empfangen werden kann.
Seit sechs Uhr früh hat Schliemann das Geschäft geöffnet, und sicherlich wird er es auch heute nicht vor zehn Uhr am Abend schließen – zu viele Kunden möchten noch bedient werden. Schliemann kauft ihnen das angebotene Gold weit unter dem Marktwert gegen Bargeld ab und verkauft es dann wiederum zum Marktwert weiter an einen Agenten des Bankhauses Rothschild in San Francisco. Geld und Gold verschließt er in einem feuer- und diebessicheren Safe. An manchen Tagen macht Schliemann einen Umsatz von zwanzigtausend Dollar. Sein Bankgeschäft wird von den Goldgräbern gerne aufgesucht; der Deutsche wirkt vertrauenerweckend, nicht zuletzt deshalb, weil sich die meisten Kunden mit ihm in ihrer eigenen Muttersprache unterhalten können – sofern sie nicht Chinesen sind. Aber selbst diese kommen gerne zu ihm und werden von Schliemann mit geringstem Misstrauen bedient. Er hält sie für weit ehrlicher und harmloser als die amerikanischen Kunden.
Er ist schon viele Monate in Kalifornien. Das Grab seines Bruders Ludwig suchte er bereits wenige Wochen nach seiner Ankunft auf. Dafür musste er zum Friedhof von Sacramento reisen. Nach längerer Suche glaubte Schliemann, endlich die richtige Stelle gefunden zu haben. Inmitten von unzähligen weiteren Kreuzen stehend, wirkte es erbärmlich. Schliemann ertrug den nichtssagenden Anblick nicht gut. An dieser Stelle musste etwas anderes stehen, etwas, das das Grab seines Bruders angemessen kennzeichnen würde. Er ließ in San Francisco einen marmornen Grabstein mit Inschrift in Auftrag geben.
Immer wieder muss er an die Worte denken, mit denen sein Bruder ihm in den letzten Briefen das Leben in Kalifornien beschrieben hatte. Ludwig betonte, wie schnell sich hier ein Vermögen machen ließe und wie schnell sich das Glück wieder wenden könne. Ständig hatte er sich vor Gaunern schützen müssen, gegen Raubüberfälle trug er, so wie jeder in diesem Land, eine Waffe bei sich. Letztendlich half ihm diese aber nicht: Eine Krankheit raffte ihn dahin. Nachdem er mit ehemaligen Geschäftskollegen Ludwigs gesprochen und die Umgebung mit eigenen Augen gesehen hat, glaubt Schliemann eine ungefähre Vorstellung davon zu haben, wie sich die letzten Wochen seines Bruders zugetragen haben müssen. Auf dem Weg zu einer Goldmine war er samt Pferd in einen Fluss gestürzt. Er konnte sich zwar retten, hatte aber keine trockene Ersatzkleidung dabei. In der Kälte der kommenden Nächte bekam Ludwig starkes Fieber. Er schaffte es noch mit eigener Kraft nach Sacramento und wurde von einem Arzt behandelt. Dennoch starb er zwei Wochen später. Wer ihm in seinen letzten Stunden beigestanden hatte, ob überhaupt jemand bei ihm am Sterbebett zugegen war, das weiß Schliemann nicht.
Auf einige Gefahren in Kalifornien hat sich Schliemann vorbereitet. Gegen Betrug und Pech gibt es für ihn, abgesehen von einem geladenen Colt am Gürtel, noch ein weiteres Mittel, das sich in der Vergangenheit bewährt hat: Information. Schon vor seiner Abreise aus Europa hatte er amerikanische Geschäftskollegen gebeten, ihm »so umständlich wie möglich« darüber zu berichten, wie sich Geld in Amerika am besten anlegen ließe und wie es sich mit dem Handel in San Francisco verhalte. Um genaueres Wissen über sein neues Umfeld, die geschäftlichen Möglichkeiten und die Gesellschaft zu erlangen, unternimmt er Ausflüge in die Gegend um Sacramento. Er schaut den Goldgräbern über die Schulter, wenn sie den Schlamm der Flüsse in Sieben waschen. Er besucht Distrikte, in denen sich die Menschen auf die Suche nach Quarz oder Blei spezialisiert haben. Die Täler scheinen vom edlen Metall nur so zu glänzen.
Vor der Gesellschaft, vor allem vor den Amerikanern, nimmt sich Schliemann in Acht. Ihre Strategie glaubt er zu durchschauen. Auf übertriebene Höflichkeit und freundliche Gesten folgt bei jeder neuen Bekanntschaft irgendwann der Wendepunkt: der Versuch, ihn übers Ohr zu hauen. Und dann, wenn das Gegenüber bei Schliemann auf Granit gestoßen ist, fängt das Spiel noch mal von vorne an. Erst wenn der zweite Versuch, ihn in eine Falle zu locken, nicht geklappt hat, belässt es der Betrüger dabei und geht seines Weges, um ein neues Opfer zu finden. Schliemann bewundert diese erstaunliche Hartnäckigkeit der Amerikaner in vielen anderen Situationen.