Der Mann, der Troja erfand. Leoni Hellmayr
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Während seine Karriere bereits erfreuliche Fortschritte zeigt, verändert Schliemann an seinem Privatleben so gut wie gar nichts. Er unternimmt nicht viel mehr als seine Abendspaziergänge, lebt weiterhin in dem kleinen Dachzimmer, das zu jeglicher Jahreszeit die denkbar ungünstigste Temperatur hat. Und er ernährt sich noch immer von Schwarzbrot und Roggenmehlbrei. Das Geld, das er zusammenspart, sendet er seiner Familie nach Mecklenburg. Die einzigen Gäste, die er empfängt, sind seine Sprachlehrer. Aber selbst die kommen seit längerer Zeit nicht mehr vorbei. Denn für die neueste Sprache, die Schliemann unbedingt beherrschen will, findet er niemanden. Genau darin liegt der Reiz für ihn: Könnte er Russisch sprechen, wäre er damit wohl der Erste in Amsterdam.
Allein schon die Suche nach geeignetem Lernmaterial gestaltet sich schwierig. Von dem Moment an, als er sein neues Projekt vor Augen hat, nutzt Schliemann jede freie Minute, um in Antiquariaten nach russischen Büchern Ausschau zu halten. Es dauert Wochen, bis er das Nötigste erstanden hat: ein Lexikon, eine Grammatik und eine Übersetzung der Abenteuer des Telemach.
Die Suche nach einem Lehrer gibt Schliemann schließlich auf und beginnt mit dem allabendlichen Auswendiglernen und Schreiben. Doch er muss sich bald eingestehen, dass das laute Sprechen und das darauf folgende Schweigen der Zimmerwände einfach nicht befriedigend sind, genauso wenig wie das aggressive Klopfen unter den Dielen, das irgendwann folgt. Schliemann braucht einen willigen Zuhörer. Schließlich bezahlt er einen Mann, einen Juden aus armen Verhältnissen. Für vier Gulden pro Woche muss dieser sich jeden Abend einen russischen Monolog anhören, von dem er kein Wort versteht. Nach etwa zwei Stunden verabschiedet Schliemann mit heiserer Stimme seinen Gast, der etwas benommen auf den Treppenstufen wankt und mit einem leichten Dröhnen in den Ohren in die Nacht verschwindet. Sechs Wochen später entlässt er den Juden von seinen Pflichtbesuchen. Schliemann beherrscht nun genügend Russisch, um Geschäftsbriefe in dieser Sprache zu schreiben und mit russischen Kaufleuten Gespräche zu führen.
Im Kontor bemerkt niemand etwas von Schliemanns schlafraubender Freizeitaktivität. Er erfüllt seine Aufgaben gewissenhaft und nimmt die Ratschläge erfahrener Kollegen an. Wann immer Schröder an Schliemanns Schreibtisch vorbeiläuft oder von Weitem einen Blick zu ihm hinüberwirft, sieht er den jungen Mann, wie er sich konzentriert und mit gestrecktem Rücken über ein Buch oder eine ausländische Zeitung beugt. Letztere durchsucht er nach Artikeln, die für das Kontor in irgendeiner Form relevant sein könnten, liest sie durch und wertet sie hinterher aus. Zufrieden wendet sich Schröder von diesem Anblick ab und fühlt sich wieder einmal in seiner Entscheidung bestätigt, dem jungen Deutschen eine Chance gegeben zu haben. Zwar musste er schon nach wenigen Wochen in der ein oder anderen Situation leicht die Augenbraue heben, als bei seinem neuesten Angestellten völlig unerwartet ein erstaunliches, fast schon unverschämtes Maß an Selbstbewusstsein aufblitzte – doch darüber sieht Schröder bei solch fleißigem Gebaren gerne hinweg. Der Übermut, denkt er, ist sicherlich nur Schliemanns jugendlichem Alter zuzurechnen.
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»In der Tat gehen uns Neuyork und Lima näher an als Kiew und Smolensk«, schreibt der preußische Historiker Leopold von Ranke (1795-1886) im Jahr 1827. Ranke spricht wohl den meisten Westeuropäern seiner Zeit aus dem Herzen. Das Russische Zarenreich, obwohl so viel näher gelegen als Amerika, scheint ihnen rätselhaft – und gefühlt in unerreichbarer Ferne gelegen. Dass Zar Alexander I. gerade einmal ein Vierteljahrhundert zuvor in den napoleonischen Kriegen als »Retter Europas« gefeiert worden war und Russland auch auf dem Wiener Kongress bei der Neuordnung des Kontinents eine bedeutende Rolle gespielt hatte, änderte daran auch nicht viel. Russland und seine Bewohner wirken auf die Europäer immer noch »barbarisch«, rückständig und fremdartig, wenngleich Letzteres nicht oberflächlich sichtbar sei. Napoleon soll einst gesagt haben, man müsse am Russen nur kratzen, um den Tataren zu finden. Dieses Bild spukt noch Jahrzehnte später in den Köpfen vieler, wenn sie an das Zarenreich denken.
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Es ist ein später Nachmittag im Winter 1846, als Schliemann im offenen Schlitten über die Waldaihöhen durch das so fremdartige Land fährt. Die Sonne ist fast untergegangen, am tiefblauen Himmel leuchten bereits die ersten Sterne durch die wenigen Lücken, die der aufsteigende Nebel noch zulässt. Im schwachen Dämmerlicht tauchen zwischen den bewaldeten Hügeln pechschwarze Seen auf und verschwinden wieder. Gleichmäßig trampeln die Pferde über den verschneiten Pfad. Wohin der Schlitten fährt, scheint nur sein schweigsamer Fahrer zu wissen. Denn vor ihnen liegt Finsternis.
Schliemann hält es in diesem Moment für durchaus realistisch, noch nie zuvor einer solchen Kälte ausgesetzt gewesen zu sein. An der letzten Station, an der sie haltgemacht hatten, war das Quecksilber eingefroren. Mit steifen Händen versucht er, die Pelzmütze noch tiefer in den Nacken zu ziehen. In seinen Ohren pocht der Schmerz. Seit ungefähr zwanzig Stunden sitzt er in dem Schlitten, der ihn nach St. Petersburg zurückbringen soll. Vor einem knappen Jahr ist er von Amsterdam dorthin gezogen und bereits zum vierten Mal hat er die beschwerliche Fahrt ins siebenhundert Kilometer entfernte Moskau auf sich genommen. Nun liegen noch mehr als fünfundzwanzig Stunden vor ihm: eine ganze Nacht und ein weiterer Tag, bis er am Ziel ankommen wird. Aus Erfahrung weiß er, dass sich die letzten Kilometer besonders lang hinziehen werden. Erst, wenn am Horizont die Silhouette von St. Petersburg zu sehen ist, wird er Vorfreude und Erleichterung über die baldige Ankunft verspüren.
Schliemann muss immer wieder seine Augen reiben – der schneidende Wind lässt sie tränen, und die austretende Flüssigkeit fängt in der frostigen Kälte sofort an zu gefrieren. Allein schon das Luftholen ist eine Qual. Flach atmend und mit geschlossenen Augen drückt er sich tief in die Sitzbank und denkt an die letzten Tage zurück.
Seine Reisen nach Moskau waren bisher stets ein kleines Abenteuer gewesen, nicht nur der Weg dorthin, sondern auch der Aufenthalt selbst. Voller Nervenkitzel hoffte Schliemann, vor Ort neue spannende Kontakte in der Handelsbranche zu knüpfen und lukrative Geschäfte abzuwickeln. Seine Hoffnung hatte sich stets erfüllt, seine Erwartungen wurden zumeist sogar übertroffen. Auf den Rückfahrten nach St. Petersburg hatte er das zähe Tempo der Reise genutzt, um die guten Nachrichten an seine Auftraggeber in Europa gedanklich vorzuformulieren. Zu Hause angekommen, würde er dann die Briefe mit ausführlichen Details niederschreiben, nicht ohne den Adressaten das Lob für Schliemanns großartige Leistungen schon einmal vorwegzunehmen. Bereits zu diesem Zeitpunkt besitzt er einen reichen Wortschatz an Superlativen.
Nun ist alles anders gekommen. Im Schlitten frierend, zerbricht Schliemann sich den Kopf darüber, wie er in Worte fassen soll, was in Moskau passiert ist. Er hatte sich mit Wladimir Alexejew getroffen, einem Moskauer Kaufmann. Der Kontakt war, genau betrachtet, nicht rein beruflich, denn Schliemann war mit der Familie von Alexejew privat befreundet. Vielleicht, denkt er, hatte er deshalb eher voreilig und vertrauensvoll begonnen, sich auf Geschäfte mit dem jungen Kaufmann einzulassen. Bislang war er mit seinen spontanen Entscheidungen überwiegend gut gefahren. Doch diesmal war es ein Fehler gewesen. Das Treffen entwickelte sich zu einem Desaster, die Geschäftsverbindung ist grandios gescheitert – und Schliemann hat schon die finanziellen Verluste ausgerechnet, die sein Misserfolg nach sich ziehen wird. Schröder wird entsetzt sein.
Mittlerweile ist die Sonne wieder aufgegangen, aber die Temperaturen sind nur unmerklich gestiegen. Der Schlitten quietscht leicht, während er über den vereisten Boden gleitet. Schliemann zählt die Bauernhöfe, die er im Vorbeifahren entdeckt. Viele sind es nicht. Sie liegen weit entfernt voneinander und wirken verloren in der unendlichen Landschaft