Einsiedlerkrebs. Patrick Budgen
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Langsam spüre ich die Müdigkeit in meinen Knochen. Ich bin aber gleichzeitig stolz auf sie. Noch vor wenigen Monaten hat sich der Weg vom Bett ins Bad wie ein Marathon angefühlt. Jetzt bin ich seit fast dreißig Stunden auf den Beinen und im Einsatz und mein Körper spielt noch immer brav mit. Am Nachmittag bin ich noch als Gast in eine Talkshow eingeladen, um über meine Erlebnisse in der Nacht zu berichten. Um 19 Uhr bin ich dann endlich daheim und wirklich hundemüde. Kurz vor dem Schlafengehen schaue ich nochmal auf mein Handy. Nein, zum Glück keine Schreckensmeldung auf Twitter. Es ist eine SMS, die mich freut. »Habe bei der Wahl zu den Journalisten des Jahres gerade für dich gestimmt«, schreibt mir ein bekannter Pressesprecher. Waaaas? Ich kann es gar nicht glauben. Doch man hat mich für meine Berichterstattung in der Terrornacht offenbar tatsächlich nachträglich für den Preis nominiert. Und das ausgerechnet in dem Jahr, das für mich alles andere als preisverdächtig begonnen hat.
DIENSTAG, 4. FEBRUAR 2020
Corona liegt in der Luft. Genauer gesagt, die Angst davor. Und zwar in 10.000 Metern Höhe. Ich sitze im Flugzeug am Heimweg aus Thailand. Zwei Wochen Mutter-Sohn-Urlaub liegen hinter mir. Zum Glück ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was vor mir liegt. Meine knapp siebzigjährige Mum hat ihre Atemschutzmaske bereits nach zehn Minuten wieder abgelegt. »Ich krieg da doch überhaupt keine Luft. Das ist ein Blödsinn«, stellt sie entnervt fest. Ich lasse meine während des gesamten zehnstündigen Fluges aufgesetzt. Am Flughafen in Bangkok hat uns die Corona-Welle erfasst. Fast alle der Passagiere, nicht mehr nur asiatische, tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Beim ewig langen Warten auf unsere Maschine – ich werde künftig nur noch direkt fliegen – schildere ich meinen Freunden per WhatsApp die für mich völlig irreale Situation: »Oida, in Bangkok am Flughafen schaut‘s aus wie auf einer Seuchenstation, alle haben eine Maske auf – ich auch ;)«. Gruppenzwang funktioniert auch am Beginn einer Pandemie. Denn bis zum Rückflug ist Corona bei uns während der vergangenen 14 Tage zwischen Sonne, Strand und Phat Thai kaum Thema gewesen. Ab und zu haben wir über chinesische Touristen gescherzt, die mit Mundschutz am Strand spazieren gegangen sind. Das war‘s aber auch schon.
Viel stärker hat mich etwas anderes beschäftigt: Meine »Dippel« am Hals, wie ich sie bis dahin genannt habe. Vor drei Monaten habe ich auf der linken Seite zum ersten Mal einen kleinen Knoten gespürt. Hypochonder wie ich bin, bin ich damit sofort zu meiner Hausärztin gegangen. »Nicht schlimm. Kommt nur von einem Infekt«, so ihre recht rasche Diagnose. Seitdem bin ich mit meinen angeschwollenen Lymphknoten – mittlerweile spüre ich vier davon ziemlich groß – beim Ultraschall gewesen, zwei Mal beim Blutbild und beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Das Fazit: kein Grund zur Sorge. »Die Schwellungen kommen höchstwahrscheinlich von einer bakteriellen Infektion«, so hat der Fachdoktor die hohen Entzündungswerte in meinem Blut beurteilt und mir Antibiotika verschrieben.
Mit ihnen und der Hoffnung im Gepäck, dass diese gesundheitliche Geschichte damit erledigt ist, bin ich also nach Kho Lanta gereist. Jeden Tag drücke ich an meinem Hals herum und rede mir ein, dass die Knoten kleiner werden. Leider Fehlanzeige. Es ändert sich genau gar nichts. Und mit jedem Tag am Traumstrand male ich mir den Albtraum weiter aus. Was ist, wenn das Ganze doch etwas Ernstes ist? Warum gehen diese verdammten Lymphknoten nicht weg? Meine Mutter versucht mich täglich mit ihrem gegoogelten Halbwissen aus dem Internet zu beruhigen. »Das ist ganz bestimmt nichts Schlimmes. Da spricht alles dagegen«, betet sie mir wie ein Mantra vor. Ich merke trotzdem, dass mit mir etwas nicht stimmt. Als ich im Pool meine abendlichen Bahnen ziehe, rede ich sogar laut mit mir selbst und stelle mir die Frage: »Was ist los mit dir? Warum bist du dauernd so müde und fühlst dich nicht gut?«. Eine Antwort auf diese Fragen bekomme ich in diesem Urlaub leider (oder zum Glück?) nicht mehr. Beim Landeanflug auf Wien beschließe ich schließlich, mich sofort gründlicher durchchecken zu lassen. Nachdem die Antibiotika nicht gewirkt haben, muss der Grund für die Knoten an meinem Hals schließlich irgendwo anders liegen.
Als meine Mutter und ich samt unseren Koffern – wir haben schon wieder viel zu viel mitgenommen – in die Empfangshalle des Flughafens kommen, wartet schon mein Vater auf uns. Er hat – so wie alle anderen hier am Flughafen – keine Maske auf, warum auch, und belächelt uns für unser »Mitbringsel« aus Thailand. Corona ist hier also noch nicht gelandet. Nicht einmal in den Köpfen. In meinem eigenen ist in den nächsten Tagen auch recht wenig Platz dafür …
MITTWOCH, 12. FEBRUAR 2020
Gerade noch bin ich gemütlich durchs Leben geschippert, plötzlich befinde ich mich mitten auf hoher See, die leider nicht vergleichbar ist mit dem warmen Meer in Thailand. Die Wellen peitschen mir kalt ins Gesicht, alles wackelt, dreht sich und macht es mir nicht einfach, fest am Boden zu stehen. Während weltweit (nur) etwas mehr als 45.000 Menschen an der neuen Lungenkrankheit COVID-19 erkrankt sind und das neue Virus in den Hauptnachrichten nicht einmal eine Kurzmeldung ist, bin ich seit heute mit einer völlig anderen Diagnose konfrontiert. Vor drei Tagen hat man mir de facto gesagt, dass ich Krebs habe. Krebs. Ein Wort, das ich schon so oft verwendet habe, das mir dabei aber immer ganz weit weg vorgekommen ist. Krebs, das trifft doch nur die anderen. Krebs, das haben alte Leute oder die, die ungesund leben, viel rauchen und trinken, sich nicht von der Couch bewegen. Aber jetzt bin ich es. 36, eigentlich kerngesund, mitten im Leben und bis jetzt unverwundbar, zumindest gefühlt.
Noch ist nicht klar, was genau da in meinem Körper schlummert. Eine bösartige Erkrankung der Lymphknoten nennt es der Arzt beim Gespräch nach den ersten Untersuchungen. Ein Gespräch, von dem man immer annimmt, dass man es selbst nie führen muss. Aber plötzlich sitze ich da in dem kleinen, eher schmucklos eingerichteten Büro des Ober-Krebs-Kapazunders und höre genau das, wovor ich mich mein Leben lang gefürchtet habe. Als Hypochonder hatte ich mir im Laufe der Jahre schon allerhand Krankheiten vorgestellt. Von Meningitis über mehrere Gehirntumore bis hin zu einer Blinddarmentzündung. Aber plötzlich ist es kein Hirngespinst mehr, plötzlich ist es wirklich da, ganz echt und es betrifft mich. In nur wenigen Tagen habe ich im Krankenhaus nun mehr Untersuchungen absolviert als in den 35 Jahren davor zusammen. Mir wurde gefühlt ein Liter Blut abgenommen, ich wurde von Kopf bis Fuß geröntgt und zuletzt hat man mich noch samt radioaktivem Material im Körper für dreißig Minuten in eine Röhre gesteckt. Das ist wohl nicht nur für einen ängstlichen Menschen wie mich ein absoluter Albtraum, einer, der aber nach dem Aufwachen in der Früh leider nicht aufhört.
Die genaue Diagnose steht in zwei Tagen fest. So wie es aussieht, dürfte es eine Form von Lymphdrüsenkrebs sein. »Unter Ärzten heißt es, wenn man sich einen aussuchen kann, dann den«, hat mir der Chefradiologe nach der Untersuchung gesagt. Und auch der Onkologe ist optimistisch, dass man die bösen Zellen in meinem Körper gut behandeln beziehungsweise sogar ganz heilen kann. Trotzdem macht mich die Ungewissheit wahnsinnig. Was kommt auf mich zu? Wie lange werde ich eine Chemotherapie brauchen? Fallen mir die Haare aus? Und die am meisten belastende Frage: Werde ich daran sterben? Zum ersten Mal in meinem Leben klopft der Tod an meine Tür. Zugegeben noch ganz leise, aber er verschafft sich zum ersten Mal Raum in meinem Leben und dieses Gefühl ist, ich kann es nicht anders beschreiben, scheiße.
Die Tage über versuche ich mich so gut es geht abzulenken. Meine Familie und meine Freunde kreisen seit der Diagnose wie eine Armee aus Schutzengeln um mich herum, sprechen mir Mut zu und sind für mich da. Ein wirklich schönes Gefühl. Auch weiter entfernte Freunde und Kollegen, die davon erfahren haben, melden sich plötzlich. Wobei sich manche SMS fast schon wie Nachrufe oder Kondolenzschreiben lesen, was nicht wirklich stimmungsaufhellend wirkt. Auch wenn ich rational weiß, dass die Chancen, diese Krankheit zu überleben, sehr hoch sind, bleibt die Angst in mir drinnen. Ich hoffe sehr, dass die genaue Diagnose und der Behandlungsplan diesen Zustand zumindest etwas ändern. Denn ich will leben, lachen und weiter die Welt sehen. Und mich nicht von einem Krebs, wie immer er auch heißt, davon abhalten lassen. Dass mich daran in nächster Zeit nicht nur der Krebs, sondern auch ein neuartiger Virus hindern wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt natürlich