Einsiedlerkrebs. Patrick Budgen

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Einsiedlerkrebs - Patrick Budgen

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pechschwarzen Haarsträhnen auf den Boden fallen. Ich sitze mit dem Rücken zum Spiegel und habe Angst vor dem Ergebnis. Leider sind unsere Bartschneider nicht besonders scharf, deshalb müht sich mein Aushilfsfriseur redlich damit ab, wirklich alle Haare zu erwischen. Beim richtigen Friseur wollte ich das nicht machen lassen, dieses Ritual schien mir dafür zu privat.

      Nach etwa zwanzig Minuten ist meine »neue Frisur« fertig. Voller Aufregung in den Knochen schaue ich in den Spiegel und bin überrascht. So schlimm schaut es gar nicht aus. Gar nicht so krank, wie ich es mir ausgemalt habe. Mein Bart, den ich seit meinem 18. Lebensjahr trage, ist zu diesem Zeitpunkt noch da. Weil ich aber weiß, dass auch dieser ausfallen wird, greife diesmal ich zum Rasierer und mache kurzen Prozess. Mit viel Schaum und Wasser rasiere ich mir nach und nach mein Markenzeichen ab. Ich schaue in den Spiegel und blicke prüfend in mein »neues Gesicht«. Jünger schaut es aus, sehr ungewohnt, aber zum Glück nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich mache ein Selfie von mir und schicke es mit #newstyle in unsere WhatsApp-Familiengruppe. Binnen Minuten poppen die Antworten meiner Eltern und Brüder auf und alle sind sich einig: Ich schaue aus wie die junge Version meines Vaters. Da hätte mir wahrlich Schlimmeres passieren können.

      MONTAG, 17. FEBRUAR 2020

      Der kleine Koffer ist gepackt. Normalerweise verwende ich ihn für kurze Städtetrips oder Wellness-Wochenenden, die wir gerne machen. Diesmal ist es leider alles andere als ein Urlaub mit Sauna, Dampfbad und Massage, für den ich Trainingsanzug, Waschzeug und meinen Laptop einpacke. Heute wird es ernst. Um 8 Uhr haben mich die Ärzte auf die Abteilung für Onkologie des Kaiser-Franz-Josef-Spitals bestellt. 3. Medizinische Abteilung, Station D. Die Nacht war recht kurz, vor lauter Aufregung konnte ich wenig schlafen. Auch das Frühstück schmeckt mir nicht so richtig.

      Kurz vor halb acht machen Alexander und ich uns auf den Weg. Hunderte Male bin ich diese Strecke schon gefahren. In die Richtung, in die wir heute abbiegen, allerdings noch nie. Als mit einem Druck auf den automatischen Öffner die Türe zur Station aufgeht, wiederholen sich die Bilder, die ich schon wenige Tage zuvor gesehen hatte. Hauptsächlich ältere, krank aussehende Menschen, die an einen Tropf angehängt durch den zwar modern gebauten, aber eher geschmacklosen Gang wandeln oder zusammengekrümmt in einem Bett liegen. Die äußerst sympathische und energisch wirkende Stationsschwester begleitet Alexander und mich zum »Tagesraum«, ein Abschnitt mitten am Gang mit einigen Tischen und Stühlen und einer kleinen Kaffeebar, an der es auch Obst gibt. Neben uns sitzen einige ältere Herren, ebenfalls mit gepackten Taschen. Die meisten von ihnen dürfen heute nach Hause gehen, erfahre ich durch ihre Gespräche, die sie in ziemlich hoher Lautstärke führen. Der Patient neben uns, ein Mann um die sechzig mit schütterem Haar, sorgt bei uns zumindest kurzzeitig für einen Lacher. Denn plötzlich legt er die kleine Boulevardzeitung, die er eben noch gelesen hatte, zur Seite und beginnt, sich mitten auf der onkologischen Station die Nägel zu schneiden. Seine abgezwickten Nägel wischt er mit dem Handrücken einfach auf den Boden. Alexander setzt schon an, sich darüber lauthals zu echauffieren, doch ich beruhige ihn und wir nehmen es mit Humor.

      Nach zweistündigem Warten ist mein Zimmer fertig. Ein Einzelzimmer mit kleinem Tisch, zwei Sesseln, einem Bett und sogar einem kleinen Balkon. Die Sonderklassenversicherung, die ich jahrelang eingezahlt habe, hat sich ausgezahlt. Auch, wenn ich sie lieber für einen etwas »angenehmeren« Spitalsaufenthalt in Anspruch genommen hätte. Als wir meine Sachen auspacken und uns einrichten, wird mir alles plötzlich viel bewusster. Ich bin wirklich im Krankenhaus, ich habe wirklich Krebs und morgen beginnt eine kräftezehrende und anstrengende Therapie. Sowohl der Chefarzt der Onkologie, der mich seit meinem ersten Besuch hier betreut hat, als auch der Stationsarzt klären mich noch einmal über die möglichen Nebenwirkungen auf. Die Haare werden mir ausfallen, meine Haut wird empfindlich auf Sonne reagieren, meine Schleimhaut im Mund anfällig für Infektionen und mein Sperma unfruchtbar. Ein Rundum-Sorgenpaket, das mit der Chemotherapie frei Haus mitgeliefert wird.

      Auch meine Heilungschancen sind wieder Thema. Sie liegen bei neunzig Prozent. Kein schlechter Schnitt eigentlich, aber wenn einen diese Möglichkeit, zu den übrigen zehn Prozent zu gehören, plötzlich selbst betrifft, fühlt sich das schon ganz anders an. Auch wenn ich weiß, dass es auch bei viel harmloseren Krankheiten eine ähnlich hohe Wahrscheinlichkeit zu sterben gibt, die Angst davor ist in mir nach wie vor groß.

      Doch bevor der Kampf gegen die bösen Zellen beginnen kann, muss ich noch einen kleinen Eingriff über mich ergehen lassen. Ein sogenannter »Port-a-Cath« wird mir eingesetzt. Ein kleines, grau-weißes rundes Teil, das mir in der Brust unter die Haut eingepflanzt wird und durch das die heilenden, giftigen Flüssigkeiten in den nächsten Monaten direkt in meine Venen geschossen werden können, ohne dafür ständig in die Armbeuge stechen zu müssen. Da würden die Venen nämlich über kurz oder lang irgendwann den Geist aufgeben, hat man mir erklärt.

      Ein nach Schweiß und Zigaretten riechender Bettenschieber holt mich aus meinem Zimmer und schiebt mich vor die Tür meiner Station. Per Kleinbus werde ich dann auf die Angiologie chauffiert. Ich habe ein kleines Déjà-vu-Erlebnis, denn so ähnlich war es auch vor einer Woche, als man mir den Lymphknoten entfernt hat. Zwei äußert herzliche und lustige OP-Schwestern bereiten mich auf den Eingriff vor, bis der Arzt plötzlich neben mir steht. Er ist Halb-Kroate mit kleiner Tochter, wie er mir während der Operation erzählt, er setzt mir mit viel Routine und Geschick den Port-a-Cath ein und schließt ihn an meine Venen an. Es ist ein seltsames Gefühl. Aber während der Eingriffe oder Behandlungen ist meine Laune am besten und der Schmäh mit dem Krankenhauspersonal rennt gut. Vielleicht einfach eine gute Ablenkung von all den schlechten Nachrichten, die in den letzten Tagen nur so auf mich eingeprasselt sind.

      Nach dreißig Minuten ist der Eingriff vorbei und ich liege wieder in meinem Einzelzimmer. Meine beste Freundin Eva ist jetzt auch da, sie hat mir ihren herrlichen Apfelkuchen mitgebracht. Als Nachspeise zur Kartoffel-Fisolen-Mischmasch-Krankenhauskost gibt es zumindest eine kulinarische Freude an diesem Tag. Wir reden noch lang über das Schicksal, die kommenden Monate und die Frage, warum es mich getroffen hat. Eine Antwort darauf finden wir freilich nicht, vielleicht finde ich sie in den kommenden Monaten. Was ich auf jeden Fall bis jetzt in meinem Leben gefunden habe, sind echte und wirklich gute Freunde. Und für die bin ich sehr dankbar. Heute mehr als je zuvor.

      DIENSTAG, 18. FEBRUAR 2020

      Ab heute wird zurückgeschossen – und zwar ziemlich scharf. Nach zwei kurzen Voruntersuchungen, eine davon in einem anderen Krankenhaus, geht es mit der Therapie los. Das Wort »Chemo« nehmen hier im Krankenhaus die wenigsten Ärzte, Schwestern und Pfleger in den Mund, wohl weil sie wissen, welchen unguten Beigeschmack der Begriff hat. Um 14 Uhr hängt mir die ziemlich beleibte, aber genauso herzliche Schwester die Infusionen zur Vorbereitung an. »Wenn wir mit dem Christbaum fertig sind, dann geht’s los«. An diesem Christbaum, wie sie den Infusionsständer nennt, hängen leider keine Schokoschirme oder Kugeln, sondern drei prall gefüllte Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit. Gegen Übelkeit, gegen allergische Reaktionen, gegen Brechreiz – vor all dem sollen die Flüssigkeiten meinen Körper schützen und vorbereiten auf das, was ab jetzt auf ihn zukommt.

      Nach etwa neunzig Minuten ist es so weit. »Jetzt wird es ernst«, sagt die Schwester und hängt mit einem gekonnten Handgriff die erste Chemotherapie-Infusion an meinen frisch implantierten Port-a-Cath. Es fühlt sich seltsam an. Beängstigend und beglückend zugleich. Denn endlich wird das, was seit Monaten in meinem Körper wütet, gezielt bekämpft. Als die ersten Tropfen durch den durchsichtigen Schlauch in meinen Körper tropfen, warte ich fast sekündlich auf die ersten Nebenwirkungen. Wann kommt der Brechreiz? Wann wird mir schwindlig? Aber solange die Flüssigkeit, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, in mich hineinfließt, passiert gar nichts. So wie es der Ober-Kapazunder, der mich täglich auf seinem Rundgang besucht, prophezeit hat.

      Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß: Der viereckige, längliche Beutel ist nur der erste von vielen, die ich von nun an am Beginn eines Zyklus bekomme. Es gibt kleinere mit roter Flüssigkeit, noch

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