Entlehrt euch!. Rolf Arnold

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Entlehrt euch! - Rolf Arnold

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der eigenen Erfahrungen zu konstruieren, wodurch er dazu beiträgt, dass auch die Zukunft mehr oder weniger so wird, wie die Vergangenheit bereits gewesen ist. Der »reflexible man« ist deshalb nicht bloß flexibel, sondern auch um Reflexion bemüht. Er weiß, dass er seine Welt bloß verändern kann, wenn es ihm gelingt, sich selbst zu verändern. Indem er lernt, die Gegebenheiten weniger rasch zu beurteilen, öffnet er sich auch dem Fremden, Unbekannten und vielleicht bereits Verworfenen gegenüber. Er vergleicht wertschätzend, wo er früher durch Beurteilungen Eindeutigkeiten herstellte. Dadurch schafft er zumindest die Voraussetzungen dafür, dass sich ihm die Wirklichkeit in anderer Weise – als andere Wirklichkeit – zu zeigen vermag. Damit erreicht der »reflexible man« eine Flexibilität eigener Art. Diese verdankt sich seiner Eigendrehung, keiner bloßen Anpassung an vermeintlich oder tatsächlich Gegebenes. Und diese Eigendrehung ist Ausdruck der Lernfähigkeit, die er als Potenzial in sich trägt.

      Auch der reflexible Mensch benötigt Wissen, um sachgemäß prüfen, beurteilen und handeln zu können. Sein Wissen ist jedoch von anderer Substanz. Es integriert die sachgemäßen Zusammenhänge mit seinen eigenen Fähigkeiten, diese aufzugreifen und bei der Entwicklung eigener Stellungnahmen oder der Ingangsetzung eigener Lösungsversuche konstruktiv zu gebrauchen. Um diese Fähigkeiten zum Umgang mit Wissen und zu dessen Nutzung entwickeln zu können, bedarf es anderer Vorgaben als bloße Lehrpläne oder Modulhandbücher (i. S. von Inhaltsauflistungen). Erforderlich ist vielmehr die Stärkung des methodischen und sozialen sowie emotionalen und reflexiven Vermögens der oder des Lernenden an und in der Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen. Der reflexible Mensch lernt dabei nicht nur »etwas«, sondern erweitert seine persönlichen Fähigkeiten

      •zur Erschließung von Wissensquellen,

      •zum Umgang mit Neuem,

      •zur Planung und Gestaltung eigener Lernprojekte

      •sowie zur Veränderung vertrauter Sichtweisen und Routinen.

      Dadurch wird das lernende Individuum mehr und mehr zu dem, was es immer schon gewesen ist – teils, ohne dies zu wissen: Eigentümer oder Eigentümerin seines bzw. ihres Lernens – ein für die demokratische Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und die eigene Lebensgestaltung in den Lifelong-learning-Gesellschaften nicht zu unterschätzender Vorgang der Rückübereignung. Wissen wandelt sich dadurch gleichzeitig von einem bloßen Besitz zu einer komplexen Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln nicht länger an persönlichen, sondern an geteilten Gütekriterien zu orientieren. Was in diesem Sinn als »gut« anzusehen sei, rufen Norbert Ricken und Uwe Schimank in ihrer Einführung in die 24. Bremer Universitäts-Gespräche deutlich in Erinnerung, indem sie an die gemeinsame Überzeugung von griechischer Philosophie und europäischer Aufklärung erinnern,

      »dass es gut sei, wenn Wissen an die Stelle von Nichtwissen und wenn wissenschaftlich gesichertes Wissen an die Stelle von bloßem Erfahrungswissen trete und dass der individuelle und gesellschaftliche Fortschritt in genau diese Richtung gehe« (Ricken/Schimank 2012, S. 11).

      Diese Orientierung ist durch die Frage der Rückübereignung des Lernens selbst nicht infrage gestellt. Diese Rückübereignung bezweifelt nicht die Bedeutung der Bewegung vom Nicht- oder Halbwissen zum Wissen oder gar die Bedeutung der Expertise für sachgemäßes Handeln. Vielmehr zielt sie darauf ab, dass auch aufgeklärtes Wissen oder Expertise nicht übernommen, sondern lediglich von den Lernenden selbst erschlossen werden kann. Die Frage, um die sich für den reflexiblen Menschen somit alles dreht, ist die nach den Wegen der Selbsterschließung. In den Fokus rückt gleichzeitig die Frage nach der Rolle, die Lehrenden bei dieser Selbstbildung zukommt bzw. zukommen kann. Ihre Aufgabe konfrontiert sie nämlich mit dem letztlich paradoxen Grundproblem jeglicher Pädagogik, Menschen zur Freiheit zu führen – eine Bewegung, deren bevormundende Substanz im Kern gegen ihre Zielrichtung selbst zu verstoßen scheint. Trotz dieser Widersprüchlichkeit müssen letztlich die Wirkungen eintreten können, um die es den Kompetenzen zur autonomen Problemlösung zu tun ist. Dabei gilt: Autonomie kann nicht pro forma oder in einer nur abgeschwächten Form eingeübt werden – gewissermaßen als »autonomy light«. Wo immer Menschen ihren eigenen Ausdruck wirklich lernen, üben und mit den erwarteten Fähigkeiten verbinden können, bleibt ihnen letztlich ein unauslöschbares Potenzial.

      Dem Autonomieerleben wohnt, so gesehen, etwas Irreversibles inne, das immer wieder zum erneuten Ausdruck drängt, selbst wenn die Umgebung am Arbeitsplatz dies zunächst nicht zuzulassen oder wenn sie es gar zu behindern scheint.

      Die Fähigkeiten des reflexiblen Menschen konstituieren bei genauerer Betrachtung das, worum es den Bildungstheorien im Kern stets ging: die vorbereitende Stärkung des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen.

      Bei der Frage, wie eine solche Stärkung erreicht werden könnte, gehen die Kompetenztheorien jedoch einen anderen Weg als die Bildungstheorien. Sie erwarten weniger vom Input, sondern fragen nach den Kontexten gelingender Ich-Stärkung und den Verhaltens-Outcomes, in denen sich zeigt, ob etwas gekonnt wird oder nicht. Kompetenzmodelle sind deshalb auch weniger curricular bezogen, sie folgen vielmehr den Einsichten der psychologisch eingefärbten Konzepte zur Ich-Werdung und Ich-Behauptung. Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass Kompetenzen zugleich Identitätselemente sind, die den bisherigen Selbstausdruck sowie die Handlungsdispositionen des Individuums bereichern und erweitern. Deshalb ist der Lerner- oder Identitätsbezug für die Kompetenztheorien augenscheinlich wesentlicher als der Bezug auf Inhalts- und Anforderungskataloge. Diese treten als solche vielmehr zurück, um das Inhaltliche in den Kompetenzen selbst stärker in den Blick treten zu lassen. Gelingende Bildung verändert dabei ihr Gesicht: Sie ist kaum noch curricular definierbar, wohl aber in präzisen und mehr oder weniger verbindlichen Fähigkeitsbeschreibungen konkretisierbar.

      Die didaktische Analyse der möglichen Bildungswirkung des Lehr- bzw. Fachinhalts muss deshalb perspektivisch ersetzt oder gar abgelöst werden durch eine »didaktische Analyse des Lernsubjektes«. Denn die vom Individuum erwarteten Lernbewegungen müssen von diesem selbst her begründet und als subjektiv anschlussfähige Lernbewegung arrangiert werden. Die erwarteten Kompetenzen stellen sich nämlich nicht dauerhaft ein, bloß weil eine didaktische Inhaltsanalyse ihre Gegenwarts-, Zukunfts- und sonstige Relevanz überzeugend dargelegt und in einem Curriculum verankert hat. Auch Fachinhalte können ihre kompetenzbildenden Wirkungen nur entwickeln, wenn sie in den Horizont der Suchbewegungen des lernenden Subjektes gerückt werden. Diese ermöglichungsdidaktische Wende von der didaktischen Analyse des Lehrinhalts zur didaktischen Analyse des Lernsubjektes geht davon aus, dass

       »Aneignungsbewegungen keiner fachlichen, sondern einer subjektiven Logik (folgen) – dies ist eine deutliche Relativierung eines nur oder auch vornehmlich fachdidaktischen Zugangs! Nicht das Fachliche und dessen Strukturen stiften den Stoff, aus dem Lernerfolge sind, sondern der jeweilige Horizont der lernbiographischen und lebensweltlichen Vorbedingungen im Lernenden selbst. […]

      Gefragt ist deshalb in der modernen Didaktik eine Prozesskompetenz, der es gelingt, das Gegenüber zur Sprache kommen zu lassen, es wirksam mit den fachlichen Themen und Kompetenzanforderungen ›in Verbindung zu bringen‹ und es dabei in seinen eigenen – fachlichen und außerfachlichen – Suchbewegungen zu begleiten und wirksam zu unterstützen. Damit eine solche ›Lernbegleitung‹ gelingen kann, ist eine dreifache Erweiterung des heute vielfach fachdidaktisch verengten Blickes notwendig. Diese geht davon aus, dass die bildende ›Kraft des Inhalts‹ eingeschränkt ist und sich nicht per se zu entfalten vermag: Entscheidend für eine nachhaltige Kompetenzreifung ist vielmehr die Beteiligung und Selbstwirksamkeit des Lernenden selbst, da auch fachliche Kompetenzen sich im Lösungserleben verfestigen und von einem bloßen Verstehen zu Können entwickeln.« (Arnold 2013a, S. 221)

      Diese »Erweiterung der Fachdidaktik« (ebd., S. 222) geht mit einer grundlegenden Akzentverlagerung der didaktischen Begründung und der thematischen Strukturierung von Lehr-Lern-Angeboten einher und rückt auch stärker die tatsächliche Nutzung sowie die Inszenierung

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