Entlehrt euch!. Rolf Arnold
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Man kann viel wissen und nichts können (vgl. Arnold/Erpenbeck 2014), und der Mensch – das lernfähige Tier – kann auch mit den Jahren lernen, nicht mehr lernen zu können. Dann erlahmt sein ursprüngliches Neugierverhalten, und seine Fähigkeiten, sich selbst und die Welt aktiv zu erforschen, kreativ Neues zu erproben und über Bisheriges hinauszuwachsen, werden verschüttet.
Die Flüchtigkeit des Wissens
Dass man die modernen Gesellschaften gerne als Wissensgesellschaften bezeichnet, bedeutet keineswegs, dass Einigkeit darüber bestünde, was dieses Wissen sei und wie sich die Gehalte des Wissens über die Jahre verändert hätten und veränderten. Wissen begegnet uns als äußere Maßgabe und auch Zumutung. Es tritt uns gegenüber. In ihm bündelt sich die Fülle der Einsichten und Lesarten zu den Sachverhalten, mit denen wir es als Menschen zu tun haben. Diese Beschreibungen haben eine Diskursgeschichte. Sie wurden geprüft, erprobt, abgewandelt und verfeinert oder verworfen – auf alle Fälle kommen sie mit einer Kraft des Faktischen daher, die kaum noch zur Diskussion steht. Diese »sicheren« Wissensbestände markieren das, was wir überliefern und mit den Nachwachsenden und Novizinnen und Novizen teilen.
Kulturen und Gesellschaften unterscheiden sich darin, wie sie die Sicherheit ihrer Wissensbasis legitimieren und in welcher Weise sie den Streit um die Gültigkeit von Erkenntnissen und Argumenten regeln. Letztlich sind Wissensgesellschaften »offene Gesellschaften« im Sinne Karl Poppers. Sie sind getragen von einer Diskurspraxis,
»die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden« (Popper 1957, S. 267).
Dieser Anspruch fordert äußere und innere Offenheit. Er ist im Kern demokratisch, setzt aber auch auf die innere Offenheit der Akteurinnen und Akteure gegenüber Infragestellungen und neuen Erklärungen. An die Stelle totalitärer Geltungsregeln und Unterordnung treten das wissenschaftliche Denken und die Institutionalisierung der Kritik. Ohne die äußere – staatlich garantierte – Offenheit hat es die innere Offenheit schwer, sich zu entwickeln und sich an den Gegebenheiten zu orientieren. Wo Gewohnheiten, Meinungen oder gar fundamentalistische Glaubenssätze bestimmen wollen, was gilt, bleibt nicht nur der wissenschaftliche Fortschritt, sondern auch der gesellschaftliche und individuelle Fortschritt auf der Strecke.
Das in einer Gesellschaft jeweils als sicher angesehene Wissen stiftet ihren Schulen, Hochschulen und Berufsbildungs- sowie Weiterbildungseinrichtungen die mehr oder weniger verbindlichen »Bildungsinhalte« (Hof 2016, S. 205). Diese werden ausgewählt, begründet, curricularisiert und didaktisiert – nicht immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber – von Ausnahmen abgesehen – in den Schattenbereichen von Ministerien, Lehrplankommissionen und Schulaufsicht. Vornehmes Ziel dieser gesellschaftlichen Konstruktion der Inhalte liegt in der Absicht, den Nachwachsenden sowie den lernenden Erwachsenen die Teilhabe am Diskurs zu ermöglichen und so letztlich auch Gesellschaft als Öffentlichkeit überhaupt erst zu gewährleisten. Denn beide »leben« von anerkannten Inhalten und Formen des Austauschs, der Geltungsbegründung und der Schlussfolgerung. Der hierbei zum Tragen kommende Wissensbegriff ist ein gesellschaftstheoretischer. Er fokussiert auf die Notwendigkeiten und die Vorzüge, die darin liegen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf einen gemeinsamen Bestand von Lesarten, Formen des Umgangs mit Wissen sowie Argumentationsstile bezogen sind, die sie zur »mündigen« Teilhabe an der Gesellschaft befähigen.
Die Funktionen des Wissens sind damit aber noch keineswegs erschöpfend beschrieben. Zu fragen ist nämlich: Woher kommt dieses Wissen? Wie werden Erkenntnisse und Informationen zu Wissen? Und: Um welche Art von Wissen handelt es sich?
Wissen ist das – jeweils vorläufige – »Insgesamt« der sozial anerkannten Bemühungen um Erkenntnis von Zusammenhängen sowie um die Verbesserung der Wirksamkeit der menschlichen Praxis.
Dieses Wissen tritt uns als Erklärungszusammenhang gegenüber. Es erscheint dabei weniger als Detailwissen, vielmehr bettet es die Details selbst erst in Strukturen, Begriffsklärungen, Regelhaftigkeiten usw. ein. »Die Welt, die gelernt wird« (Göhlich/Wulf/Zirfas 2014, S. 7), begegnet uns deshalb auch nicht als solche, sondern stets im Lichte der jeweils als zeitgemäß angesehenen Erklärungszusammenhänge. Diese verändern und vertiefen sich beständig, denn wir verstehen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte viele Zusammenhänge genauer und gewinnen über sie auch oft eine wirksamere Gestaltungsmacht. Dies gilt insbesondere für die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, aber auch die eigentümlichen Wechselwirkungen der sozialen Praxis können wir heute genauer verstehen als noch vor fünfzig Jahren. In diesem Zusammenhang von Wissen zu sprechen, verweist darauf, dass der Wissensbegriff auch eine Steigerung ausdrückt, indem er sich vom Nicht-Wissen oder Halbwissen unterscheidet und dadurch auch eine Stufenfolge der Weltbildentwicklungen markiert, die zu einer zunehmenden Kohärenz und Konsistenz des Wissens zu führen vermag. Ihre Stufen sind »Beschreibung«, »Erklärungswert«, »innere Widerspruchsfreiheit«, »äußere Widerspruchsfreiheit« sowie »Prüfbarkeit« (Vollmer 1991, S. 765).
Bildung durch Evidenz
Der an solchen Evidenzen gebildete Mensch ist ein Wissensträger der besonderen Art: Seine Fähigkeiten erschöpfen sich nicht in der Kenntnis von Sachverhalten bzw. in deklarativem Wissen (knowing that); vielmehr verfügt er auch über Fähigkeiten zur Handhabung und eigenen Konstruktion von Wissen (knowing how) bzw. über prozedurales Wissen, wie dies bereits Anderson (1976) definierte. Christiane Hof verleiht diesem Ansatz neue Aktualität:
»Mit Bezug auf pädagogische Fragen bezieht sich das deklarative Wissen auf das Lernen domänenbezogenen Sachverhaltswissens und das prozedurale Wissen auf die Aneignung der Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Es geht hier also um ein Können bzw. um bestimmte Fertigkeiten und Strategien (Skills), die einen bei der Durchführung von Tätigkeiten unterstützen. Während das deklarative Wissen als bewusst und explizit zu benennen ist, zeichnet sich das prozedurale Handlungswissen dadurch aus, dass es nur teilweise übersetzbar ist und auch implizite Anteile hat.« (Hof 2016, S. 207)
Diese Unterscheidung lässt die Frage entstehen, welches Wissen eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Wissensgesellschaft oder der Wissensveralterung sprechen. Veraltern beide Arten von Wissen gleichermaßen? Oder haben wir es letztlich bloß mit einer Wissensverschiebung zu tun, die durch eine wachsende Bedeutung des prozeduralen gegenüber dem deklarativen Wissen gekennzeichnet ist? Eine vertiefte Untersuchung der beobachtbaren Wissensverschiebungen würde schließlich die Frage »Auf welches evidente Wissen kann ich mein Denken und Handeln gründen?« durch die Frage ablösen »Wie kann ich mich selbst in dem, was ich denke und tue, an Evidenzen orientieren?« Die ständige Bemühung um Evidenz würde sich so als prozedurales Wissen darstellen. Es könnte den Eindruck des Deklarativen, dem ja immer auch der Geruch von etwas Endgültigem anhaftet, spürbar hinter sich lassen und die Akteurinnen und Akteure innerlich gegenüber dem Neuen öffnen. Wäre dies nicht die eigentliche Aufgabe einer Bildung in der Wissensgesellschaft?
Auch Evidenzen gibt es bloß vorübergehend. Und nicht jede als evidenzbasiert ausgegebene Einschätzung hält der Überprüfung auch Jahre später noch stand, wie die Beispiele von Samuel Arbesman (2012) zeigen. Aber anderes als die Mechanismen einer sozialen Konstruktion der Evidenz haben die Menschen nicht. Evidenzbasiertes Denken und Handeln geht somit von bewährten, nicht von wahren Erkenntnissen aus – eine Differenzierung, die bisweilen vergessen wird. Die Begründung von Evidenzen folgt sozialen Regeln, wie etwa denen, dass
•Interessen in Beurteilungs- und Entscheidungskontexten über das, was gilt bzw. gelten soll, ausgeklammert bleiben müssen,
•die Prüfung der Gültigkeit einer Einschätzung stets vorläufig, d. h. ohne Ansehen der Person dessen, von dem