Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie. Группа авторов

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Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie - Группа авторов EHP-Praxis

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Indifferenz in der differenzierten Mannigfaltigkeit hinzuweisen, verwendet Friedlaender eine Vielzahl von Bezeichnungen: Ich, später oft Ich-Heliozentrum, Selbst, Wesen, Subjekt, Individuum, Identität, Person, Geist, Seele, das Absolute, ∞, Insistenz, Wille, Freiheit … Er legt sich nicht auf bestimmte definitive Wortetikettierungen fest, sondern versucht das letztlich Unbeschreibliche in kreativ vielperspektivischer Variation hinweisend zu umschreiben. Alle seine Aussagen, insbesondere (aber nicht nur) bezüglich der Indifferenz, sind »so gemeint, wie man überhaupt ehrlicher Weise etwas meinen kann: beweglich! Lebendig. Man soll sich an ihren Buchstaben nicht kehren, man soll, wo möglich, mit einem besseren ihre Bedeutung verdeutlichen« (F 1905, 203 f.).

      3.2 Transdifferenz

      Ich möchte hier einen für diesen Zusammenhang neuen Begriff einführen: Transdifferenz. Zur Klärung von Missverständnissen scheint er mir hilfreich zu sein. Transdifferenz meint dasselbe wie schöpferische Indifferenz, schließt aber ein Missverständnis aus. Indifferent, ohne Unterschied, kann einfach mit identisch gleichgesetzt werden. Indifferenz ist dann einfach Identität. Das jedoch meint Friedlaender mit seiner schöpferischen Indifferenz gerade nicht. Der Tag kann im Gegensatz zur Nacht verstanden werden oder als das Ganze von 24 Stunden, das Tag und Nacht umfasst. Im zweiten Sinne ist die schöpferische Indifferenz zu verstehen und nicht im Sinn der indifferenten Identität im Gegensatz zum Differenten. Friedlaender geht es darum, dass in der schöpferischen Indifferenz das fundamentale, allerallgemeinste Merkmal aller Phänomene nicht ausgelöscht und eliminiert wird, sondern transzendiert und überstiegen: die Differenz, der Unterschied. Das drückt Transdifferenz aus. Transdifferenz bedeutet eben jenes Paradoxe, den unterscheidenden Intellekt Übersteigende, »sich durch Ununterschiedenheit unterscheiden«. Die wörtlich-logisch deutsche Entsprechung wäre Überunterschiedlichkeit. Das klingt reichlich holperig, trifft aber den Punkt. Das »Überunter« lässt an den »Fernnahen«, das »überhelle Dunkel«, das »stille Geschrei« denken, paradoxe Wortverbindungen, die in der Mystik die Transzendenz Gottes zum Ausdruck bringen, indem sie durch das Verschweißen von polar gegensätzlichen Aspekten auf das hinweisen, was die Gegensätze übersteigt oder ihnen zu Grunde liegt und sich dem sprachlichen Begriff entzieht. Die Sprache »zerspricht das polar Selbe«, bringt Friedlaender (GS 10, 189) es auf den Punkt.

      Der Grund ist in meinem Verständnis transdifferent, er unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Schöpferische Indifferenz, Transdifferenz und Grund werden von mir synonym gebraucht.

      Wissenschaftlich wird der Begriff Transdifferenz seit 2001 im Kontext kulturtheoretischer Konzepte verwendet (Allolio-Näcke / Kalscheuer / Manzeschke 2005). Ob sich mit dem hier vertretenen Verständnis von Transdifferenz Berührungspunkte oder Schnittmengen ergeben, müsste untersucht werden.

      3.3 Zauberwort Mitte

      Warum ist Mitte ein Zauberwort? Das möchte ich möchte mit Überlegungen erklären, die von Friedlaender inspiriert sind.

      3.3.1 Die Mitte von Linie, Fläche und Raum

      Ein Kreis auf einer Fläche mit einem Mittelpunkt. Dieser Mittelpunkt markiert die Mitte, genauer, er weist auf sie hin. Denn wenn wir ihn näher ansehen, mit einer Lupe oder gar mit einem Mikroskop, dann stellt sich der Mittelpunkt immer wieder als eine Fläche dar, die wiederum selbst eine Mitte hat. Kurz, ganz genau betrachtet und streng genommen ist die Mitte ein Nicht-Ort, griechisch »ou topos«, eine Utopie. Mitte auf der Linie, auf der Fläche, im Raum ist kein Phänomen, sondern eine Verhältnisbestimmung zwischen mindestens zwei Extremen, die dadurch in ein ausbalanciert polar gleiches Verhältnis kommen und distanzlos, flächenlos, raumlos durch nichts getrennt aneinandergrenzen.

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      3.3.2 Die Mitte der Zeit

      Gehen wir von der Mitte auf der Fläche oder im Raum zur Mitte der Zeit.7 Das ist (nicht nur) nach Friedlaenders Verständnis die Gegenwart, das Jetzt. Vergangenheit und Zukunft sind die Pole und das Jetzt ist die Mitte. Bei der Messung der Zeit werden sprachlich räumliche Begriffe verwendet, wie Zeitraum, Zeitabstand, Zeitspanne oder Zeitpunkt. Darum lässt sich das Verständnis der Mitte aus den Kategorien des Raumes auch anschaulich auf die Zeit übertragen. Doch lassen wir wieder Friedlaender zu Wort kommen. Er macht den Zusammenhang am deutschen Wort »einst« deutlich, das polar doppeldeutig ist: »Es war einst …« und »Es wird einst …« Ferne Vergangenheit und ferne Zukunft in einem Wort! »So erweist sich die Zeit als Magneten mit polarem Einst und der Indifferenz Jetzt; analog der Raum als Hüben & Drüben und Hier.« (F/K 1986, 229)

      Suchen wir nach der Mitte einer Zeitspanne, so kann man sich das vorstellen wie das Bestimmen der Mitte einer Linie. Wie die markierte Mitte einer Linie beim genauen Hinsehen immer noch eine Ausdehnung, sprich Länge, hat, für die man die Mitte suchen kann, so auch bei der Zeit. Das Jetzt als Zeitmittelpunkt ist immer weiter zu unterteilen in Nanosekunden (eine milliardstel Sekunde) bis zu Attosekunden, den kleinsten heute messbaren Zeiteinheiten. Auch hier ist das Jetzt als Mitte letzten Endes kein messbares Phänomen, sondern das genau polar balancierte Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. »Der Augenblick ist dem Menschen nicht als ein ›Zeitpunkt‹ gegeben, ebensowenig als eine abgrenzbare ›Zeitspanne‹, sondern als etwas, das nicht auf einer reellen Koordinate abgemessen wird«, konstatiert Carl Friedrich v. Weizsäcker (1988, 373), der sich als Physiker und Philosoph auch mit Religion, Mystik und Meditation (1992) befasste. Das Jetzt ist die Zentrierung der Zeit, die Zeitindifferenz. Es ist Nichts. Nicht messbar, nicht greifbar. Darauf beziehe ich die berühmte Antwort von Augustinus aus seinen Confessiones im 14. Kapitel auf die Frage, was die Zeit sei: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiß ich es nicht.«

      Wenn wir ganz im Jetzt zentriert sind, dann treten wir gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, der Chronos-Zeit, heraus und der Kairos tritt ein, um es mit Bezug auf zwei mythische Gestalten des griechischen Götterpantheons auszudrücken. Chronos, meist als ernster alter Mann dargestellt, repräsentiert die unerbittlich vergehende, objektiv messbare, lineare Zeit. Kairos, in Gestalt eines jungen Mannes mit Flügelschuhen und wehender Stirnlocke, repräsentiert den erfüllten Augenblick, den es beim Schopf zu packen gilt, die Zeit, die im Nu vergeht. Mit Chronos und Kairos werden zwei Zeitqualitäten unterschieden. Und das Wesentliche des Kairos ist die Zentrierung im Jetzt.

      Das volle Erfahren der Gegenwart befreit gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, die offene Zukunft zu Vergangenheit erstarren lässt. In der Zentrierung im Jetzt erfahren wir die Freiheit von der Zeit, Zeitfreiheit oder einfach Freizeit. Das ist die Freizeit, nach der wir uns zutiefst sehnen, auch wenn uns das meist nicht so bewusst ist: Freizeit, garantiert ohne Freizeit-Stress und ohne Langeweile.

      »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt«, ist bei Ludwig Wittgenstein zu lesen (Tractatus logico-philosophicus, 6.4311). Und der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich schreibt: »Vergangenheit und Zukunft treffen in der Gegenwart zusammen und beide sind im ›Ewigen Jetzt‹ gegenwärtig.« (Tillich 1987, 447)

      »Nunc aeternitatis«, das Ewige Jetzt. Dieses Wort findet sich auch bei Nikolaus von Kues. Damit drückt er eben dies aus, dass unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern die Zeitfreiheit der Gegenwart zu verstehen ist. Ein anderer mystischer Terminus dafür ist »Nunc stans«, das Stehende Jetzt. Das Jetzt, das steht und nicht vergeht, weil es der vergänglichen Zeit enthoben ist. Diese Zeitqualität des Jetzt als Mitte der Zeit, als Zeittransdifferenz, zu erfahren, wird in der Mystik als geistige Befreiung verstanden. »Die Seele, die da steht in einem gegenwärtigen Nun, in die gebärt der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in derselben Geburt, wird die Seele wieder in Gott geboren«, lesen wir in den Deutschen Predigten von Meister

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