Mehr ausbrüten, weniger gackern. Andreas Müller
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Damit ist klar: Der Komplexität des Lernens ist mit einfachen Strickmustern nicht beizukommen. Jedenfalls nicht nachhaltig. Das gilt auch und gerade für schulisches Lernen. Und dieses schulische Lernen wird mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich und Sinn stiftend, wenn es gelingt, das Zusammenspiel der lernrelevanten Faktoren bedürfnisgerecht zu gestalten.
Lernen lässt sich nicht in Einzelteile zerlegen. Die Erfolgsfaktoren wirken integral durch die Dynamik ihrer Rückkoppelungsprozesse. Aufgabe von LernCoaches ist es deshalb, für ein optimales Zusammenwirken zu sorgen, die sechs lernrelevanten Faktoren im Hinblick auf eine individuelle Erfolgswahrscheinlichkeit möglichst günstig zu beeinflussen.
❶ Orientierung
Grundlage ist eine transparente und einsichtige Orientierung – quasi eine inhaltliche Landkarte. Es geht darum, zu wissen, was man können könnte. Es geht darum, die Erwartungen abzustecken (Referenzwerte). Und es geht um das Bewusstsein der eigenen Situation.
❷ Auseinandersetzung
Das Ziel heißt: Verstehen. Aus etwas Fremdem etwas Eigenes machen. Einer Spur folgen und konstruktiv mit Widerständen umgehen. Lernnachweise auf individuellem Herausforderungsniveau sind das Ergebnis eigener Zielformulierungen.
❸ Arrangements
Offene und bedürfnisgerechte Arbeitsformen führen zu einer Verlagerung des Aktivitätsschwerpunktes. Umgang mit Vielfalt auf der Grundlage einer Vereinbarungs- und Einforderungskultur. Lernorganisation ist immer auch (und vor allem) Selbstorganisation.
❹ Evaluation
Den Evaluationsabsichten kommt eine präformierende Wirkung zu. Kompetenzorientiertes Lernen verlangt nach entsprechendem Umgang mit Lernleistungen: referenzieren, präsentieren, reflektieren, dokumentieren. Förderung statt Selektion, Checks and Balances.
❺ Lernort
Der Lernort wirkt als »dritter Pädagoge« determinierend auf das Verhalten (z. B. Aktivitätsschwerpunkt). Räume dienen der Funktionalität, der Ästhetik und der Inspiration. Außerschulische Lernorte systematisch einbeziehen. Strukturierte Materialien als Lernanlässe offerieren.
➏ Interaktion
Eine lösungs- und entwicklungsorientierte Interaktion folgt der Logik des Gelingens. Das setzt ein Interesse an den Lernenden und an ihrem Erfolg voraus. In einer Kultur des Voneinander- und Miteinanderlernens werden Betroffene zu Beteiligten.
Die sechs lernrelevanten Faktoren sind eingebettet in vier basale Faktoren. Dabei geht es in erster Linie um Haltungen und Einstellungen – zu sich, zu anderen und zu den Dingen.
❶ Menschenbild
Kein Kind steht am Morgen auf und sagt: »Heute bin ich ein schlechter Mensch.« Lernende wollen lernen. Sie wollen »gut« sein, anerkannter Teil der Gemeinschaft. Das verlangt nach Vertrauen und Wertschätzung.
❷ Rollenverständnis
Menschen leben die Rollen, die sie sich geben oder die ihnen zugewiesen werden. Die Förderung von Selbstgestaltungskompetenz verlangt nach Hilfe zu Selbsthilfe. Weniger Schüler, mehr Lernunternehmer hier und mehr Coaches und Berater da.
❸ Lernverständnis
Lernende konstruieren sich die Welt. Sie lernen – vor ihrem biografischen Hintergrund – selbst und ständig. Das hat aber nichts mit einem Jahrmarkt der Beliebigkeiten zu tun. Schulisches Lernen soll als zielführend, erfolgreich und Sinn stiftend wahrgenommen werden.
❹ Funktionsverständnis
Die Funktion bestimmt die Form. Eine individuellen Kompetenzentwicklung verlangt nach massgeschneiderten Programmen. Ziel ist der persönliche und schulische Erfolg aller Lernenden. Nicht abschluss-sondern anschlussfähig sollen sie sein, anschlussfähig an relevante Lebenssituationen.
Ein Faktor ist – so erklärt das Herkunftswörterbuch – eine »Vervielfältigungszahl«, eine »mitbestimmende Ursache«. Und in der Tat: Lernrelevante Faktoren sind mitbestimmende Ursachen, denen es zielführend Rechnung zu tragen gilt, damit die Möglichkeiten erfolgreichen Lernens sich vervielfältigen.
Autagogik
Lernen, das können Menschen nur selber tun. Es geschieht einfach. Aber es lässt sich auch gestalten, ermöglichen, behindern. Die Schule bedient sich dafür des Begriffs »Pädagogik«. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen: paîs (-idós) = Kind, Knabe und ágein = führen. Der paidagogós war der Kinderführer, ein Sklave, der die Kinder außer Haus begleitete.
Diese bedeutungsmäßige Herkunft hat sich erfolgreich in die heutige Bildungslandschaft hinübergerettet. Zwar führt der Lehrer (der mehrheitlich durch die Lehrerin abgelöst worden ist) die Kinder kaum mehr außer Haus. Sie kommen zu ihm. Ohne Führung. Stattdessen führt er sie auf virtuellen Wegen entlang von Themen hin zu Prüfungen. Der Lehrer weiß, wie weiland der Sklave, wo es lang geht. Er kennt den Weg, er weiß, welches der richtige ist und welches der falsche.
Chris Shute bezieht dazu unmissverständlich Stellung: »In neun von zehn Schulen, an neun von zehn Tagen, in neun von zehn Stunden sind Lehrende damit beschäftigt, eine dünne Informationsschicht über den kindlichen Verstand zu legen und sie nach kurzer Verweildauer wieder abzusahnen, um selbstzufrieden feststellen zu können, dass die Informationsschicht vorschriftsgemäß aufgelegt wurde« (Shute 1998).
Lernen sollte jedoch die Selbstgestaltungskompetenz fördern.
Dann aber müssen die Gebrauchsspuren auch entsprechend gelegt werden. Dann müssen die Lernenden und ihr aktives, selbstbestimmtes Lernen ins Zentrum der schulischen Arbeit rücken. Und dann würde »Autagogik« besser passen. Wesentlich besser sogar.
Der Begriff setzt sich zusammen aus autós = selbst, aus eigener Kraft und ágein = führen. Autagogik bezeichnet ein übergeordnetes Konzept für selbstkompetentes, selbstwirksames Lernen (Müller 2002/2004 / Fuchs 2005). Es versteht sich als »Bezeichnung für ein didaktisches Lehr-Lern-Arrangement mit dem Ziel einer selbstwirksamen Kompetenzerweiterung im schulischen Kontext. Selbstwirksam lernen bedeutet, dass Lernende sich ihre eigenen, ihnen sinnvoll erscheinenden Ziele setzen, die sie dann entsprechend ihren eigenen, ihnen bedeutsam erscheinenden Strategien gemäß verfolgen und umsetzen« (Fuchs 2005),
Ein Beispiel: Vor der letzten Fußballweltmeisterschaft, das Panini-Fieber hat die westliche Zivilisation erfasst. Unzählige Kinder landauf, landab haben die farbigen Bildchen gesammelt. Und wie! Mit Eifer. Mit Begeisterung. Mit Ausdauer und Beharrlichkeit. Sie kannten plötzlich Länder, von deren Existenz sie zuvor nicht den Dunst vom Schimmer einer Ahnung gehabt hatten. Und Kinder, die normalerweise keine zehn Französisch-Vokabeln auf die Reihe kriegten, kannten mit einem Mal Spieler, deren Namen wesentlich komplizierter klangen als irgendein unregelmäßiges Verb im Passé simple. Unselbstständige Schüler entwickelten Erfolgsstrategien, die ihnen kein paidagogós beigebracht hatte. Und selbst solche, die sich eigentlich gar nicht für Fußball interessierten, fanden sich in kürzester Zeit in der Welt der Mannschaften und der Spieler zurecht.
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