Liebesbrief an Unbekannt. Thomas Brezina

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Liebesbrief an Unbekannt - Thomas Brezina

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durch den Knöchel. Sie musste ihn sich verstaucht haben. Gegen wen oder was war sie da gesprungen?

      Als sie sich umdrehte sah sie am Ende der Treppe jemanden stehen. Es war ein Mann in einer Jacke mit aufgestelltem Kragen. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, nur dichtes Haar, das ihm in die Stirn hing, und einen Vollbart. Sein Gesicht lag im Schatten.

      »Habe ich Ihnen wehgetan?«, fragte sie stotternd.

      »Nicht so schlimm.«

      »Das tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«

      »Sie sind zum Glück nicht schwer.«

      Emmas Tante hatte sie vor Drogensüchtigen und Obdachlosen gewarnt, die hier in der Nacht herumlungerten.

      »Sie haben so aufgestöhnt, wenn ich Sie verletzt habe, dann kann ich Sie ins Krankenhaus bringen…« Emma kam näher auf ihn zu.

      Schnell drehte der Mann den Kopf weg, als wollte er nicht, dass sie sein Gesicht sah.

      »Wirklich kein Problem«, hörte Emma ihn murmeln. Er wandte sich ab, und als er ein paar Schritte machte, konnte Emma sehen, dass er leicht hinkte. Trotz der Schmerzen in ihrem Knöchel humpelte sie ihm hinterher, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war.

      »Ich habe Sie wirklich nicht verletzt, oder?«

      »Lassen Sie mich in Frieden!« Schroff stieß er sie weg. Emma stolperte erneut, und ihr Knöchel erinnerte sie mit einem heftigen Schmerz, dass er Schonung wollte.

      »Ich habe mir nur Sorgen um Sie gemacht«, rief sie aufgebracht. »Kein Grund, so unfreundlich zu sein.«

      Der Mann blieb stehen, kehrte ihr aber den Rücken zu. Emma fielen die Ermahnungen ihrer Tante ein, und sie wich zurück. Wenn er sich auf sie stürzte, sie niederschlug oder vergewaltigte? Hörte es hier jemand, wenn sie schrie?

      Es sah aus, als wollte der Mann noch etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders. Kopfschüttelnd stapfte er nach vorne gebeugt, die Hände in den Jackentaschen, davon.

      Armer Kerl, dachte Emma.

      Sie überlegte, ob sie zurückgehen sollte, oder den Madeira Drive überqueren und noch ein wenig über den Kiesstrand schlendern.

      Der Mann war in der Dunkelheit verschwunden. Sie blickte die lange untere Uferstraße hinauf und hinunter. Es waren nicht einmal Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern unterwegs. Was für eine einsame Nacht.

      Eine Nacht, die ihrer Grundstimmung sehr entsprach.

      Der Strand fiel in einer kleinen Stufe ab, die hoch genug war, um sich zu setzen. Die auslaufenden Wellen leckten über die Kiesel, und Emma hörte das Platzen der Schaumblasen. Sie ließ sich nieder und blickte hinaus zum Horizont, wo sich winzige Lichtpunkte bewegten. Es waren die Lastschiffe, die von Frankreich nach England unterwegs waren, wie man Emma erklärt hatte.

      Zu ihrer en, nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt, erstreckte sich der berühmte Pier hinaus in das Meer. Es war ein langer Finger, ein Steg, an dessen Ende Achterbahnen und andere Rummelplatzattraktionen aufragten. Brighton Pier bedeutete Spaß, Fish&Chips, Popcorn, Eiscreme, Spielhallen, in denen jeder mit nur ein paar Pennys dabei sein konnte. Lachende Kinder, vergnügte Familien und Liebespaare, die ständig Selfies von sich machten.

      Nur einmal war Emma zum Pier gegangen. Es war vor drei Wochen gewesen, und sie war durch die lärmerfüllten Spielhallen gewandert, bis zur letzten Achterbahn. Sie hatte sich sogar einen Token gekauft und war in einen der kleinen Wagen gestiegen. Wenige Sekunden später sauste sie durch die Kurven und den Looping, immer das Meer unter sich und mit einem Gefühl, als würde sie im nächsten Augenblick ins Wasser stürzen.

      Sie schrie, wie sie es auch als kleines Mädchen auf dem Rummelplatz gemacht hatte. Aber nun hielt sie die Stange vor sich mit beiden Händen fest umklammert und streckte die Arme nicht mehr übermütig in die Höhe, wie sie das früher getan hatte.

      Ihr Übermut war schon lange verschwunden und einer Niedergeschlagenheit gewichen, die einfach nicht mehr weggehen wollte. Lange war sie nicht am Pier geblieben, da sie die Ausgelassenheit der anderen Leute und vor allem die verliebten Pärchen nicht ertragen hatte.

      Der Pier war in dieser Nacht bereits geschlossen, die Lichter auf die Hälfte gedimmt. Der Spaß schien zu schlafen und neue Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln.

      Sie konnte die Augen nicht von dem langen Steg nehmen, und bei der Erinnerung an ihre bedrückte Stimmung, während sie mit der Achterbahn gefahren war, kam ihr ein Gedanke: Sie würde nie wieder die Arme in die Luft strecken und aus voller Kehle kreischen. Ihr fehlte dazu das Vertrauen.

      Sie musste sich überall anklammern, um nicht erneut so schrecklich zu fallen. Ihr ganzes Leben war ein einziges Festhalten geworden, bis ihre Hände schmerzten und die Fingerknöchel weiß hervortraten.

      Sie hatte das Vertrauen verloren, in sich und darin, dass sie auf den Beinen bleiben konnte.

      Vor allem aber war in ihr ein tiefes Misstrauen in den Fluss des Lebens, in die Gerechtigkeit und die Möglichkeit, wenigstens für Tage wieder etwas wie Leichtigkeit, Glück und Liebe zu fühlen.

      Emma beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie, legte das Gesicht in die Hände und schluchzte. Es war kein befreiendes Weinen, es war ein trockenes, verzweifeltes, fast würgendes Schluchzen, das schmerzte.

      Zuerst dachte sie, das Meerwasser wäre hochgespritzt, als sie etwas Kühles auf ihrem Handrücken fühlte. Sie spreizte die Finger und spähte durch.

      Vor ihr stand jemand, der sie angefasst hatte.

      3

      Überfall, war Emmas erster Gedanke. Oder ein Betrunkener, der sie vergewaltigen wollte.

      Emma fuhr in die Höhe und trat der Person mit voller Wucht in den Unterleib. Sie hörte ein gequältes Aufstöhnen und sah mit Befriedigung, wie sich die Gestalt vor ihr krümmte.

      Der Selbstverteidigungskurs, den sie als 16-Jährige absolviert hatte, machte sich zum ersten Mal bezahlt. Die Bewegungen, Schläge und Tritte zur Abwehr von Angreifern hatte sie damals so viele Male geübt, dass sie in Fleisch und Blut übergegangen waren. Emmas Bein bewegte sich wie durch eine Feder betätigt, ihre Hände fuhren auseinander, und die Handkanten schnellten wie zwei Beile links und rechts gegen den Hals des Mannes, der noch immer vorgebeugt dastand.

      Wieder ein Stöhnen, der Angreifer geriet ins Wanken. Sie packte seinen Kopf unter dem Arm und drehte sich, als wollte sie dem Unbekannten das Genick brechen. Er schrie erschrocken auf, und um dem Schmerz zu entkommen, ließ er sich zu Boden fallen.

      Genau das war Emmas Ziel gewesen. Es war ein Mann in einer dunklen Jacke und Jeans. Er lag auf dem Bauch, Emma war sofort über ihm, riss seinen linken Arm hoch und verdrehte ihn auf den Rücken. Sie kniete halb über dem Mann und hatte ihn jetzt unter Kontrolle. Wenn er sich bewegte, musste sie nur den Arm leicht nach oben drücken, schon würde er aufgeben.

      Schlagartig fühlte sich Emma stark. Sie war über ihre Reaktionsgeschwindigkeit und Kraft selbst überrascht. Zugetraut hätte sie sich nichts davon.

      »Polizei!«, rief Emma. Das heißt, sie wollte es rufen, aber die Aufregung schien in ihrer Kehle zu stecken. Sie brachte keinen Ton heraus.

      Der

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