Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo Baer
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Der Klient schaut auf und blickt fragend zu den Musikinstrumenten.
„Soll ich Ihnen ein Instrument bringen?“ fragt der Therapeut.
Der Klient nickt. Der Therapeut bringt dem Klienten, der mittlerweile in Bewegungslosigkeit nahezu erstarrt ist, das große Monochord und stellt es aufrecht vor ihn hin. Dieser hebt langsam die rechte Hand und zupft an einer Saite. Sein Gesichtsausdruck wirkt überrascht, als er den klaren, fast kraftvollen Ton vernimmt. Er lauscht lange dem Nachhall. Und noch einmal greift er in die Saite, stärker noch als beim ersten Mal. Dem Therapeuten scheint es wie eine Klage – oder eher noch wie ein Hilferuf – zu klingen.
Nachdem der Klient seinen Klang ein drittes Mal ertönen lässt, schaut er den Therapeuten an. Der Therapeut fragt: „Darf ich antworten?“ Der Klient nickt stumm.
Der Therapeut setzt sich auf die andere Seite des Monochords und antwortet auf den Ton des Klienten, indem er – leiser und weniger dynamisch als der Klient – über drei Saiten des Monochords streicht. Und wieder der Klang des Klienten, genauso kraftvoll und laut wie vorher, allerdings zieht er diesmal die Hand über die ganze Breite des Monochords. Und erneut antwortet der Therapeut. Ein Kontakt entsteht, hergestellt fast ohne Worte, ein Resonanzprozess hat begonnen, in dessen Entwicklung dieser Klient seiner gebremsten Lebendigkeit, seiner in der Leere, im Nichts versickerten inneren Fülle des Erlebens allmählich auf die Spur kommen kann.
Solche und viele ähnliche Erfahrungen haben unser Interesse geweckt, das Musizieren sowie das Musikhören in unsere therapeutische Praxis einzubeziehen. Wenn Menschen musizieren, erklingt ihr Erleben. Wenn Menschen musizieren, können sie ihr Klingen verändern und damit auch spielerisch Veränderungen ihres Lebens und Erlebens proben. Wenn Menschen musizieren, werden sie hörbar und können Resonanz erfahren. All diese Erfahrungen sind kleine Schritte auf einem großen Weg. Eine an ihrer Magersucht leidende Klientin hat am Ende eines längeren musiktherapeutischen Prozesses gesagt: „Ich habe gelernt zu klingen. Und ich klinge, um in mir zu wohnen.“ Dieser Satz, der die Bemühungen unserer KlientInnen wunderbar zusammenfasst, klingt in unseren Ohren so stimmig, dass wir ihn in den Titel des Buches gestellt haben.
Ein nicht zu behebender Mangel dieses Buches besteht darin, dass es von Klängen, Tönen, Geräuschen, Stimmen handelt – aber nicht hörbar ist. Das, was im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und Interesses steht und dort seinen gewichtigen Raum einnimmt – eben das Erklingen und Erhörtwerden unserer KlientInnen, findet sich oft nur in einem kurzen, lapidar anmutenden Satz wieder wie: „Lass bitte deine Angst erklingen.“, oder: „Wie hört sich deine Sehnsucht an?“ bzw. „Und dann musizierte sie ihre Wut.“ oder „Er spielte seinen Schmerz auf der Trommel.“ Wir sind darauf angewiesen, dass Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, den Beschreibungen musiktherapeutischer Prozesse öffnen, ihrer musikalischen Fantasie freien Lauf lassen und ihr Beachtung und Bedeutung schenken.
Im Unterschied wohl zu den meisten MusiktherapeutInnen waren wir beiden AutorInnen nicht zuerst MusikerInnen und haben uns dann zu MusiktherapeutInnen entwickelt. Ich, die Autorin, habe meine musikalische Ausbildung in Flöten-, Klavier- und Geigenspiel über das Jugendorchester hinaus nicht fortgesetzt. Ich, der Autor, habe zwar musikalische Wurzeln in meiner Kindheit, aus denen jedoch auf Grund von wechselhaften Lebensumständen, v. a. der Flucht aus der damaligen DDR, lange Jahre nichts weiter erwuchs. Zwei unserer beider Lebensträume, die nicht in Erfüllung gehen werden, hängen mit Musik als Kunst zusammen: Die eine von uns wäre gerne Sängerin, der andere Saxophonist – beide umkreisen wir diesen Traum in seinen zartesten Anfängen mit Scheu. Umso glücklicher schätzen wir uns, dass wir uns andere Lebensträume erfüllen konnten, unter anderem den, mit aller Leidenschaft TherapeutInnen zu sein, die Musik als bereicherndes Element in ihre Arbeit einbeziehen können. Therapeutisch haben wir immer nach Möglichkeiten des Ausdrucks und der Kommunikation, die über die Alltagsworte hinaus reichen, gesucht und uns anfangs auf die künstlerische Gestaltung sowie das Körpererleben und den Tanz konzentriert. In diesen Fachbereichen haben wir uns um grundlegende Modelle und Konzepte bemüht, wie Sie bei Interesse u. a. unseren Büchern: „Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder …“ (Kunst- und Gestaltungstherapie) und „Leibbewegungen“ (Tanztherapie) entnehmen können. In unserer Reihe „Bibliothek der Gefühle“ finden Sie unsere professionelle Liebe zu allen therapeutisch zu nutzenden Medien wie Kunst und Gestaltung, Bewegung und Tanz, Musik und Poesie wieder. In der Therapie ging und geht es uns immer darum, das Erleben des Menschen und all seine Lebensäußerungen ernst zu nehmen. Da das Äußern von Tönen eine Lebensäußerung ist (wir bezeichnen sie als eine der „Primären Leibbewegungen“), erzwang die innere Logik des therapeutischen Prozesses, der Musik Beachtung zu schenken und Respekt zu zollen. Wir wurden immer mutiger und sicherer bzw. wir gewöhnten uns an unsere Unsicherheiten und wurden gleichzeitig experimentierfreudiger. Wir begannen, unser methodisches Spektrum zu erweitern. Wir lernten und lernen vor allem von den KlientInnen – unter ihnen neben völlig „Ungeübten“ auch MusikerInnen und (angehende) MusiktherapeutInnen – und freuen uns daran, welche kreativen Lösungen sie gemeinsam mit uns finden, das, was sie bewegt, erklingen zu lassen.
So entstanden aus der Wertschätzung des Musizierens in der therapeutischen Arbeit einige Methoden und Praxisansätze, die im Rahmen unserer Ausbildungen bei der Zukunftswerkstatt Tanz, Musik und Gestaltung und darüber hinaus auf Interesse stießen.
In diesem Buch möchten wir deshalb unsere Erfahrungen so vorstellen, dass Kolleginnen und Kollegen davon Nutzen haben. Wir hoffen, MusiktherapeutInnen die eine oder andere Anregung geben zu können, und wünschen uns, auch TherapeutInnen, die keine ausgebildeten MusikerInnen oder MusiktherapeutInnen sind, Mut zu machen, Elemente des Musizierens und Musikhörens in ihre therapeutische Arbeit zu integrieren.
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen also vor allem methodische Anleitungen, die wir anhand von Praxisberichten demonstrieren (Band 1), oftmals bereits verwoben mit den spezifischen theoretischen Grundlagen, soweit sie unserer Auffassung nach das Verständnis erweitern helfen. Dort gibt es auch praktische Hilfen, Haltungen, Handreichungen, die weder spezifische Methoden noch theoretische Grundlagen betreffen. Sie betreffen die Arbeit mit bestimmten Personengruppen, Hinweise zum therapeutischen Prozess, besondere niedrigschwellige Zugänge für Menschen mit Hemmungen, sich musikalisch auszudrücken, und anderes mehr.
Wir haben unsere Erläuterungen mit zahlreichen Beispielen aus unserer therapeutischen Praxis illustriert und belegt. Da wir unsere praktischen Erfahrungen überwiegend in der Einzeltherapie und in Seminaren machen, stammen die meisten Beispiele aus diesem Feld. Wir haben auch Erfahrungen in der institutionellen Therapie, in unterschiedlichem Maße, in der Psychiatrie zum Beispiel mehr als mit Behinderten. Wir wissen aber, dass viele Musikoder andere TherapeutInnen mit KlientInnen oder PatientInnen arbeiten, die sich nicht – wie die meisten unserer KlientInnen – mehr oder weniger „freiwillig“ in Therapie begeben und Veränderungen suchen. Wir sind uns dennoch sicher, dass die meisten der vorgestellten Methoden, wenn auch nicht alle und wenn auch abgewandelt, in der Forensik oder psychiatrischen Klinik, mit Behinderten oder Verstummten möglich sind. Da in den meisten Methodik-Kapiteln diese Erfahrungen in den Beispielen nur einen beschränkten Platz finden, haben wir den niedrigschwelligen musiktherapeutischen Verfahren und der Arbeit mit bestimmten Personengruppen in Kapitel 18 einen besonderen Raum gegeben.
Eine der Quellen unserer musiktherapeutischen Arbeit ist das Erleben der Musik oder, besser gesagt, des Musizierens und Musikhörens. Das, was dem Musizieren und dem Musikhören innewohnt, haben wir versucht, in Band 2 so zu beschreiben, dass das große Potenzial, aus dem die Musiktherapie schöpfen kann, deutlich wird. Ebenfalls in Band 2 haben wir, wenn auch knapp, die Aspekte zusammenfassend dargestellt, die uns in jeder therapeutischen Arbeit wichtig sind, hier besonders in der Musiktherapie („Was uns am Herzen liegt“).
Für die ausführlicheren Bezüge zu den wissenschaftlichen Quellen und ideengeschichtlichen Wurzeln müssen wir auf unsere anderen Veröffentlichungen verweisen. Dieses Buch sollte vor allem