Die Anti-Aging Revolution. Johannes Huber
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Neben der richtigen Ernährung war es vor allem Bewegung, die er Annelie Leichtfried aber nicht ausdrücklich verordnen musste. Schon als Kind war sie Tag um Tag mit dem Fahrrad nach Bregenz ins Gymnasium gefahren. Ihr ganzes Leben machte sie Sport, vor allem Radfahren. Voriges Jahr kaufte sie sich einen Kilometerzähler, weil sie wissen wollte, wie viel sie jetzt, mit neunzig, noch schafft. Ergebnis: mehr als tausend Kilometer im Jahr.
Und dann, Jahrzehnte nach dem Treffen mit Doktor Albrich, kam sie zu mir in meine Wiener Ordination, die nahe dem Schwarzenbergplatz beim Schloss Belvedere liegt. Sie nahm auf einem der bequemen alten Stühle gegenüber meinem Schreibtisch Platz und wir redeten eine Weile.
Es war die Zeit, in der in Annelie Leichtfrieds Leben die Menopause einsetzte. Mit fünfundvierzig durchaus früh. Üblich und statistischer Durchschnitt für den Beginn des Klimakteriums ist um die fünfzig. Und irgendwo dazwischen ist es auch bei ihr losgegangen. Also suchte sie meinen Rat als Gynäkologe.
Bisher hatten ihr Ärzte wie zigtausenden anderen Frauen Hormonpräparate verschrieben, die ihr in den Wechseljahren helfen sollen.
Eines Tages sagte ich zu ihr: »Die brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir machen es anders. Viele Frauen leiden ab dem Wechsel stark unter Gewichtsproblemen. Weil das Testosteron steigt und sich das Körperfett anders verteilt. Weil die hormonelle Umstellung im Körper der Frau den Hang zum Bauchfett fördert. Weil sich die Muskelmasse zugleich verringert und auch Wassereinlagerungen für zusätzliche Kilos sorgen können. Und weil es zuerst zu einem Östrogen-Überschuss kommt, bevor die Produktion auf Dauer zurückgeht.«
»Sehr interessant«, sagte Annelie und wartete.
Ich fuhr fort. »Wenn Sie das vermeiden wollen und zugleich auch etwas Wertvolles für Ihre Gesundheit tun möchten, dann machen Sie Cancelling. Das ist jetzt ganz neu und kommt aus Amerika.«
Dinner-Cancelling. In den Siebzigerjahren war der Begriff noch nicht so durchgekaut.
Ich hatte diese Fastenmethode einige Monate davor in den USA als neuen Gesundheitstrend entdeckt und mich bereits intensiv damit befasst. Es ist schon seltsam, dass aus diesem Land gleichzeitig das Gesunde wie auch das Ungesunde in die Welt hinausgetragen wird. Fresst euch zu Tode oder lebt die Askese, sucht es euch aus.
»Und was muss ich bei diesem Cancelling tun, Herr Doktor?«, fragte mich Annelie.
»Nichts mehr essen am Abend. Die letzte Mahlzeit so gegen drei, vier Uhr am Nachmittag. Und dann erst wieder ein gutes, reichhaltiges Frühstück.«
»Ein vernünftiges Frühstück? Ist das erwachsen? Gescheiter als ein Omelette aus drei Eiern?«
Ich nickte. »Ja.«
Seither beginnt Annelie ihre Tage mit einem warmen Haferbrei. Die Haferflocken weicht sie am Vorabend ein. Morgens werden sie ein wenig gekocht. Mit Wasser und nur wenig Milch. Eine Prise Salz dazu. Und immer eine halbe Banane, die schneidet sie in kleinen Stücken hinein und lässt sie in der Masse mitköcheln. Danach kommt ein kleiner Löffel Honig dazu, etwas Joghurt vielleicht oder selbst gemachtes Apfelmus, und hinterher garniert sie den Brei mit frischen Früchten. Das ist ein reichhaltiges Frühstück. Da braucht sie gar kein Brot.
»Das ist kein großer Aufwand, schnell zubereitet und genügt vollauf bis Mittag«, sagte ich.
Mittags kocht sie selbst. Ohne Ausnahme. Mit ein bisschen Öl, aber nicht zu viel. Und Butter, aber nur in kleinen Mengen. Von einem nahen Bauern daheim im Ländle besorgt sie sich frisches Gemüse. Gegen ein kleines Stück Fleisch, nur ganz kurz angebraten, oder Fisch ist gar nichts einzuwenden. Den Fisch hat sie aus dem Bodensee. Es spricht auch nichts gegen ein Huhn oder ein Stück Pute ab und zu. Gute Qualität muss es halt haben. Beilagen nur wenige.
»Und am Nachmittag, so gegen drei Uhr, essen Sie noch einen Apfel. Oder anderes Obst. Danach haben Sie keinen Hunger mehr«, sagte ich.
»Und was, wenn doch?«, fragte Annelie. Sie konnte schon hören, wie ihr Magen knurrte.
»Wenn Sie es gar nicht aushalten, knabbern Sie am Abend noch ein kleines Stück Hartkäse. Sie werden sehen. Der Körper gewöhnt sich so rasch daran, dass er nach gar nichts mehr verlangt – bis zum nächsten Tag.«
»Danke«, sagte Annelie »das werde ich ausprobieren.«
Sie hatte mir ihre Geschichte erzählt und mich neugierig gemacht. Jedes Mal, wenn sie zu mir in die Ordination kam und aussah wie das blühende Leben, fragte ich nach.
»Ja, der Dr. Albrecht und Sie«, sagte sie, als sie letztens wieder bei mir war. Sie hielt kurz inne. »Hab ich Albrecht gesagt? Unsinn. Er heißt natürlich Albrich.«
Es soll einem nichts Schlimmeres passieren mit neunzig.
Ich freue mich sehr, dass Annelie Leichtfried (die Dame hat mich ersucht, ihren richtigen Namen nicht zu nennen, sie ist sehr bescheiden) dieses damals so neue und merkwürdige Konzept des Dinner-Cancellings befolgte. Seit vier Jahrzehnten macht sie das jetzt.
Ausnahmen gibt es natürlich schon, aber ganz selten. Zum Beispiel, wenn sie bei Freunden eingeladen ist. Sie will die Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen und dort sitzen und fasten, als wär’ das ein stummer Protest. Hin und wieder am Abend etwas zu essen, spielt überhaupt keine Rolle. Da hat sie vielleicht am nächsten Tag einmal ein halbes Kilo mehr, und am übernächsten Tag ist es auch schon wieder weg. Seit Annelie das Cancelling macht, ist ihr Gewicht immer gleichgeblieben. Bis heute.
Die Detox-Kur, sagt Annelie, komme dem, was sie seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich und ohne Betriebsanleitung betreibt, am nächsten. Aber auch nur bedingt, denn weder kasteit sie sich mit der sogenannten Entschlackung – ein Begriff, den wir Mediziner gar nicht gerne hören, weil es im Körper keine Schlacke gibt – noch durch wochenlanges Saftfasten oder ähnliches. Über die Vielzahl ständig wechselnder Trends in Sachen Ernährung, die das perfekte Abnehmen auf Dauer mal so und danach mal so versprechen, ist sie ebenfalls im Bilde und sogar auf dem letzten Stand.
Viel hält sie allerdings nicht davon: »Diese ganzen Diäten, wo du drei Wochen lang nur das Gleiche essen sollst, oder erst keine Kohlenhydrate, dann wieder nur fettreiche Nahrung wie bei der ketogenen Diät, oder das wochenlange Teetrinken und diese Geschichten, das ist doch alles ein Unfug. Der Körper gewöhnt sich irgendwann an diese Art von Ernährung und stellt seinen Stoffwechsel um. Dann geht gar nichts mehr beim Gewicht. Und so schnell kannst du gar nicht schauen, schon hast du die Kilos wieder oben. Da mache ich es lieber so, wie es mir von euch beiden Ärzten geraten wurde, und verzichte bewusst auf ganz bestimmtes, ungesundes Essen. Und auf das Abendessen. Damit die Zellen im Körper sich über Nacht erholen oder selbst reparieren können. Dafür bewege ich mich viel und erlaube mir ab und zu auch mal ein Gläschen Wein.«
Der Erfolg ihres disziplinierten Savoir-vivre kann sich sehen lassen: »Ich habe immer noch alle eigenen Zähne. Ich nehme keinerlei Medikamente. Nicht einmal Grippetabletten. Gesund ernähren. Sich bewegen. Das ist das beste Rezept überhaupt, nach dem man kochen kann.«
Zwei Söhnen hat sie das Leben geschenkt, das genügt, sagt sie, dabei huscht ein Lächeln über ihr glattes, fast faltenfreies Gesicht.
Und dann hat Annelie auch noch ein paar kleine Tipps für den Alltag parat: »Nicht allzu viel Kaffee, auch wenn der jetzt wieder eine Renaissance erfährt, nachdem man ihn jahrzehntelang als ungesund und schädlich verteufelt hat. Aber viele Leute brauchen das viele Kaffeetrinken halt, oder sie glauben wenigstens, dass sie es brauchen.«
Auf