Mehrsprachigkeiten (E-Book). Dagmar Bach
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Die folgende selektive Diskussion der drei genannten Mythen bewegt sich mehr auf einer soziologischen und weniger auf sprachdidaktischer oder linguistischer Ebene, da Mythen eher gesellschaftliche Wirkungen und nicht empirisch fundierte Forschungsergebnisse erklären. In der Diskussion versuchen wir, subjektive Theorien über das Sprachenlernen, die mindestens teilweise auf diesen als Tatsachen getarnten Mythen beruhen, einer – auch didaktisch – weiterführenden Argumentation zugänglich zu machen.
1.1 Mythos «Dominanz der lokalen Sprache»
Die Erwartung, dass die lokale Sprache in ihrer bildungssprachlichen Form kompetent verwendet werden muss, um Bildungserfolg zu erreichen, ist in der Schweiz so dominant und im Bereich der öffentlichen Volksschule derart allgemein akzeptiert, dass sich eine weiter greifende Betrachtung lohnt. Wilhelm von Humboldt beschrieb 1836, wie Sprache und Herkunft zusammen zu denken sind:
«Gerade aber die Vertheilung in Nationen beweist die gar nicht äusserliche, sondern ganz innerliche Natur der Sprache […]. Der innige Zusammenhang der Sprache mit der physischen Abstammung, und dadurch ihr Ursprung aus der Tiefe des Wesens und die durch die Abstammung bedingte Einheit der menschlichen Natur gehen auch aus den gewöhnlichen Thatsachen hervor, dass die vaterländische Sprache für die Gebildeten und Ungebildeten eine viel grössere Stärke und Innigkeit besitzt, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne mit Sehnsucht berührt, dass dies […] gerade auf dem Unerklärlichen, dem Individuellsten, auf ihrem Laute beruht, dass es ist, als wenn man mit dem heimischen einen Theil seines Selbst vernähme.»
Humboldts Beschreibung ist charakteristisch für ihre Entstehungszeit, in der sich in Europa sprachlich homogenere Nationen bildeten. Die Idee von Sprache und Kultur als einigendem Band stellt allerdings wiederum den inneren Zusammenhalt von politischen Einheiten infrage (Baskenland, Kurdistan, Kanton Jura) und führt bis heute dazu, dass Sprachen von Minderheiten, etwa griechische oder albanische Sprachvarietäten in Süditalien, systematisch ausgemerzt werden. Humboldts Gedanken sind, 200 Jahre nachdem sie formuliert wurden, in Alltagstheorien verankert und beeinflussen die politische Steuerung des Umgangs mit Sprache. Die inländische Sprachenvielfalt (in der Schweiz etwa das Rätoromanische, in Kanada etwa das Französische und die indigenen Sprachen) wird zwar – von den Sprachmehrheiten durchaus auch etwas widerwillig – gepflegt. Aber Begriffe wie Deutsch als Zweitsprache, DaZ, implizieren, dass Sprachenvielfalt nicht an sich als Wert anerkannt wird und Ziel des Unterrichts primär die Anpassung an die lokale Mehrheitssprache ist. DaZ ist im Übrigen bereits eine begriffliche und gedankliche Weiterentwicklung von Deutsch als Fremdsprache, eine Wendung, die heute nur mehr verwendet wird, wenn die Umgebungssprache der Deutsch-Lernenden nicht Deutsch ist. Allerdings verdecken Bezeichnungen wie «fremdsprachige Jugendliche», «DaZ-Schüler» oder «Schülerinnen mit anderer Erst- oder Herkunftssprache» die Tatsache, dass Lehrpersonen und Dozierende mit Gruppen von grösstenteils «mehrsprachigen Menschen» arbeiten. Eine Umschreibung wie DaZ impliziert und verfestigt die Vorstellung, dass nur die einheimische Bildungssprache den Zugang zur weiterführenden Ausbildung ermöglichen kann.
Dies zeigt, dass nach den emanzipatorischen Schritten der 1980er- und 1990er-Jahre weitere folgen müssen. Damals wurden zahlreiche didaktische Handreichungen publiziert, die teilweise auch die soziale Schicht berücksichtigten, wie das «Handbuch für den Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitern» (Barkowski/Harnisch/Kumm 1980). Etwas später entstanden die – bis heute laufend weiterentwickelten – Lehrgänge für Lehrpersonen, die DaZ unterrichten. Immer noch liegt die Perspektive beim einheimischen Standardmenschen in einer sozial unmarkierten Version: Er benutzt Bildungssprache als eine seiner Erstsprachen und erlernt sie in Schule und Familie – in der deutschen Schweiz in den beiden Varietäten der hochdeutschen und der schweizerdeutschen Bildungssprache. Diesem Standardmenschen sollen Kinder und Jugendliche möglichst früh und gut angeglichen werden. Die realen Mehrsprachigkeiten[1] der Schweiz werden dabei entweder ausgeblendet,[2] oder der Umgang damit ist betont freiwillig[3] beziehungsweise wird nur in eng eingegrenzten Zusammenhängen verlangt. So nahmen etwa über Movetia, der Nationalen Agentur für Austausch und Mobilität, im Jahr 2018 nur rund zwei Prozent der Lernenden in der Volksschule und gymnasialen Sekundarstufe II an einem Sprachaustausch innerhalb der Schweiz teil (Movetia 2019, S. 11). Diese niedrige Zahl erstaunt, weil die Schweiz als offiziell viersprachiges Land für solche Formen des Sprach- und Kulturerwerbs geradezu prädestiniert sein müsste und weil sich die Arbeitswelt an einer Mehrsprachigkeit der Berufslernenden interessiert zeigt (vgl. Grin 2013). Allerdings ist für die – vor allem mittleren und kleinen – Lehrbetriebe der Berufsbildung und die einzelnen interessierten Lehrpersonen der Organisationsaufwand nach wie vor enorm und nicht integraler Bestandteil von Bildungskonzepten.
Demnach lässt sich konstatieren, dass die Relevanz von Sprachen (bildungs-)politischen Ideologien unterliegt. Entsprechend wird oft mit «Chancengleichheit» argumentiert, wenn es um die Relevanz von Bildungssprache geht. Erzählungen über Ausländer*innen, die es – trotz Anderssprachigkeiten – geschafft haben, bestätigen den Mythos.
Dies verdeutlicht, dass Sprache ein Machtinstrument ist (siehe den Beitrag von Vetterli in diesem Band, hier). Wer an der Macht teilhaben will, muss eine bestimmte Sprache beziehungsweise Sprachvarietät und das damit verbundene (Welt-)Wissen (vgl. Busch 2017, S. 81–95) der Mächtigen beherrschen. Dieses Phänomen zeigt sich global. So gilt in Australien Englisch in Hochschulen und Schulen unbestritten als Bildungssprache, wird entsprechend gelernt und verwendet. Dennoch zeigen die Sprachbiografien der australischen Lernenden, dass weit weniger als die Hälfte von ihnen Englisch als Erstsprache bezeichnet. Sie nennen Englisch jedoch auch nicht ihre Zweitsprache und verwenden verschiedene Sprachen gleich oft (vgl. Klug 2014). Ähnliche Tendenzen finden sich in Europa. Denken wir an internationale Schulen, die kaum daran interessiert sind, die lokale Sprache in ihr Curriculum zu integrieren. Sie setzen auf Englisch. Offenbar funktioniert eine globalisierte Elite ohne Kenntnisse der lokalen Sprachen mit Englisch als Lingua franca (vgl. Volksschulamt Kanton Zürich o. J.).
1.2 Mythos «Sprachzerfall»
Sprachen und Kulturen wandeln sich. Wandel verursacht neben Begeisterung stets auch Verunsicherung. Oftmals entsteht dabei eine Reibungsfläche zwischen Generationen und entsprechend auch im Verständnis von Bildung. Sieber und Sitta haben gezeigt, wie die altbekannte Klage über den Sittenverfall mit der Klage über den Sprachzerfall einhergeht. Politisch gesehen, funktioniert das Argument des Sprachzerfalls perfekt. Es berührt archetypische Ängste. Linguistisch ist jedoch erwiesen, dass es keinen Sprachzerfall gibt, sondern lediglich Sprachwandel. Es reduzieren sich weder Aktiv-Wortschätze, noch nimmt die Ausdruckskraft ab. Vielmehr verändern sich Wortschätze und dasjenige, was Sprachen in einer jeweiligen Zeit prägnant beschreiben. Ob dieser Wandel nun in einer Sprache geschieht oder ob er mehrere Sprachen tangiert, ist, sachlich gesehen, nicht zu werten. Es sei denn, man ginge, wie Humboldt in unserem Eingangszitat, davon aus, dass die Sprache einer Gruppe eine mystische Identität schafft (Sieber/Sitta 1994, S. 15–18).
1.3 Mythos «Sprachbegabung»