Mehrsprachigkeiten (E-Book). Dagmar Bach
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Der Mythos der Sprachbegabung allerdings bremst – wie die übrigen – den fördernden Umgang mit Sprachen im Bildungssystem, impliziert er doch eine von aussen wenig beeinflussbare Sprachkompetenz, die Bildungsversuche unterläuft oder sie unnötig macht: Lehrpersonen und Dozierende erwarten so mitunter von Lernenden, die vor Kurzem aus Deutschland eingereist sind, dass sie bessere Texte schreiben als Schweizer derselben Gruppe, und reproduzieren diese Annahme gleich selbst über die Benotung. Weiter verführt dieser Mythos Fachleute beim Erstellen von Lehrplänen dazu, dass sie für Mehrsprachigkeiten weder Förderung noch spezifische Beachtung vorsehen und Sprachenlernen in sämtlichen Schulfächern auf eine marginale Rolle verwiesen bleibt. Kurz: Forschungsergebnisse bleiben didaktisch weitgehend wirkungslos, obschon sie belegen, dass sprachfördernde Lehrpersonen den inhaltlichen Lernstoff mit Lese- und Schreibunterricht verbinden (vgl. Neuland/Peschel 2013, S. 246; Hattie 2009, S. 259).
Weiter vernachlässigt der Mythos der Sprachbegabung die Wirkung der sozioökonomischen Herkunft der Personen, die eine Sprache sprechen oder lernen: Es ist relevant, ob die Eltern eines Kindes mit albanischer Erstsprache im diplomatischen Dienst tätig sind oder Arbeiten ausführen, die keinen formalen Bildungsabschluss verlangen.
Zusammenfassend lässt sich zu den Mythen über Mehrsprachigkeiten, deren es noch weitere gibt – etwa, dass nur Kinder eine Sprache voll und ganz erwerben können – Folgendes festhalten: Zukunft und Gegenwart sind mehrsprachig, und zwar in einem Masse, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, inwiefern die Arbeit mit einer einzigen Bildungssprache pro Region tatsächlich sinnvoll ist. Diskurse darüber, wie Mehrsprachigkeiten zu behandeln sind, müssen von Mythen befreit und in politischen Zusammenhängen gesehen werden. Was eine bestimmte Sprachverwendung bedeutet und bewirkt, sollte in der Schule und im Studium thematisiert werden.
2 Zwei Formen von Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeiten erfassen kommunikative, identitätsstiftende Realitäten im gesamten Lebenskontext. Die öffentliche Bildung hat Lernende optimal darauf vorzubereiten.
Wir unterscheiden grob zwei Formen von Mehrsprachigkeiten, die sich nicht scharf voneinander trennen lassen.
Lernkontexte funktionieren vorab sprachlich, und ein Grossteil der Lernenden und Lehrenden lebt in komplexen mehrsprachigen Identitäten. Neben dem Unterricht, der offiziell in der Bildungssprache stattfindet, verwenden sie, in den Korridoren, auf dem Campus oder dem Pausenplatz, verschiedene Soziolekte, Wissenschafts- und Berufssprachen. Bestimmte Sprachen werden je nach Kontext auch versteckt, in der Schweiz etwa Serbisch während des Jugoslawienkriegs.
«Mehrsprachigkeiten» – gezielt im Plural verwendet – meint also die Vielfalt an Sprachen, Sprachverwendungen und Sprachregistern im Kontext der Professionalisierung und die Formen ihres Erwerbs (gesteuerter oder ungesteuerter Spracherwerb).
3 Thesen zu Mehrsprachigkeiten in der Ausbildung auf der Sekundarstufe II und an Hochschulen
Für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache existieren zahllose Hilfestellungen und Ideensammlungen, die meisten davon allerdings nur für die Volksschule. Auch sind ausgreifende didaktische Anregungen zur «Förderung der Schulsprache in allen Fächern» (Neugebauer/Nodari 2016) selten. Was fehlt, wird oftmals an den Sprachunterricht/allgemeinbildenden Unterricht delegiert. An Hochschulen gibt es für das «Fehlende» spezifische Dienstleistungen (Kurse), manchmal auch Dienstleistungsstellen (Sprachzentren, Schreibzentren u. a.).
Der vorliegende Band versucht, in diese Lücke zu springen, mit dem Risiko, den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wir beleuchten den Umgang mit Sprache auf der Sekundarstufe II und Hochschulstufe, berücksichtigen dabei Dimensionen von Mehrsprachigkeiten und geben Hinweise für die Unterrichtspraxis. Es gibt vier gute Gründe, dieses unmögliche Unterfangen zu wagen: