Ausbildung der Ausbildenden (E-Book, Neuauflage). Geri Thomann
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Einleitung
Um die individuelle Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmenden an sich verändernde Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, wurde im Rahmen der arbeitsmarktpolitischen Debatte Ende der 1960er- und anfangs der 1970er-Jahre in Deutschland der Begriff «Schlüsselqualifikation» – häufig mit «Schlüsselkompetenz» gleichgesetzt – lanciert. Dieter Mertens prägte den Begriff als Leiter des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und verstand darunter Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht berufsspezifisch sind, lange anhalten und unvorhersehbare Anforderungen bewältigen lassen. Handlungsorientierung und Erfahrungswissen ergänzten dadurch den Primat der rein fachlichen Orientierung. Heute spricht und schreibt man diesbezüglich von überfachlichen Kompetenzen.
Inzwischen hat sich der Begriff «Kompetenz» zu einer regelrechten Stopfgans entwickelt, das jeweils zugehörige Erklärungskonzept schwankt bedarfsorientiert zwischen Standardisierung und Vergleichbarkeit, Überprüfbarkeit, Ungewissheitsbewältigung und Persönlichkeitsbildung (vgl. Backmann 2018, S. 20 ff.).
Die begriffliche Unschärfe nährt sich einerseits durch die Paradoxie, dass eine Qualifizierung als Anpassung an Gegebenes bei dem vorausgesetzten steten Wandel nie reicht und Kompetenzen immer auf eine nicht begrenzbare Qualifikationsdimension zielen. Andererseits dadurch, dass hoffnungsvoll und mit technologischer Grunderwartung eine Steuerung der Persönlichkeit von Lernenden angenommen wird. Legitime bildungspolitische Harmonisierungs- und Anerkennungsbestrebungen führen zudem europaweit zu kompetenz- (resp. outcome-)orientierten Ausbildungsprofilen. So erzeugen bildungspolitische Intentionen andere Begrifflichkeiten als etwa psychologische oder gar didaktische Intentionen.
Bildungspolitische Sichtweise: Standardisierung und Vergleichbarkeit
Die formalen Vorgaben der Bologna-Reform für Hochschulen in der Schweiz beispielsweise gehen davon aus, dass Kompetenzen über Lernzielformulierungen angestrebt werden und im Rahmen von Modulprüfungen während des Studiums zu Qualifikationen führen sollen. Dabei sollen Lernziele (learning outcomes) dem jeweiligen Kompetenzstand angepasst sein und diesem Stand gemäss transparent überprüft werden. Die Handlungsorientierung wird hier durch das Prinzip der Vergleichbarkeit und der Überprüfung ergänzt. Wissen wird gemäss diesem Verständnis kontinuierlich zu Können, der Aufbau von Kompetenzen erfolgt in dieser Denkweise in Stufen.
2000 formulierte der Europäische Rat in der Lissabon-Agenda zudem folgendes Ziel: Europa soll zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Dafür solle die Umsetzung der Bologna-Deklaration vorangetrieben werden. Parallel dazu wurde 2002 der Kopenhagen-Prozess für den Berufsbildungsbereich analog zum Hochschulbereich lanciert. Der Kopenhagen-Prozess ist eine arbeitsmarktorientierte Strategie, die analog zum Bologna-Prozess Qualitäts- und Attraktivitätssteigerung der Berufsbildung, deren Positionierung im europäischen Rahmen sowie Mobilitätszunahme und Stärkung der internationalen Zusammenarbeit zum Ziel hat. Diese Ziele sollen durch die Vergleichbarkeit, Durchlässigkeit und Transparenz von Qualifikationen und Abschlüssen sichergestellt werden.
Für die Umsetzung oben genannter Ziele entwickelt die EU unterschiedliche Instrumente. Zu den zentralen zählen der Europäische Qualifikationsrahmen (EQF für englisch: European Qualifications Framework), der die beiden Harmonisierungsprozesse Bologna und Kopenhagen miteinander verbinden soll, sowie der nationale Qualifikationsrahmen (NQF für englisch: National Qualifications Framework oder NQR).
Schweizer Hochschulen verfügen mit nqf.ch-HS über einen darin situierten eigenen Rahmen, die Berufsbildung neu mit NQR-CH-BB ebenso. Geplant sind im europäischen Raum gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen.
Der EQF orientiert sich an Lernergebnissen beziehungsweise am Outcome von Lernprozessen. Er definiert acht Bildungsniveaus in Stufen, alle Stufen werden durch Deskriptoren beschrieben; er soll zudem lebenslanges Lernen durch Validierung von nicht-formalem und informellem Lernen fördern (siehe dazu auch weiter oben unter 2.2).
Wenn diese bildungspolitische Sicht- und Ordnungsweise ohne «Übersetzung» curriculare und didaktische Konsequenzen zeitigen soll, muss sie sich dem Vorwurf der Atomisierung von Kompetenzen, des technokratischen Stufendenkens in Bezug auf Lernprozesse und der Suggestion von linearer Steuerbarkeit von Lernen aussetzen.
Für die notwendige didaktische «Übersetzung» des Kompetenzbegriffes ist es angezeigt, darüber nachzudenken, was ursprünglich mit dem lernpsychologischen Begriff «Kompetenz» gemeint war und wie dieser nach wie vor verstanden werden könnte.
Arbeitspsychologische Sichtweise: Situativ angemessenes «gutes Handeln»
Calchera und Weber (1990, S. 5 f.) definierten «Kompetenz» wie folgt:
Kompetenz , aus dem Lateinischen «cum» und «petere», = «mit» und «streben nach», bedeutet eigentlich «schritthalten (können), ausreichen, zusammentreffen». Das entspricht bei Lernprozessen üblichen Formulierungen wie «er kommt mit» und «sie kann folgen». Eine Kompetenz ist somit die Fähigkeit, «mitzukommen» und «zu folgen» in dem jeweiligen Gebiet, und setzt daher eine direkte situative Vergleichsmöglichkeit voraus. Eine Kompetenz kann, wenn sie erkannt und richtig eingestuft wurde, als Qualifikation bestätigt werden. Die andere Bedeutung des Wortes Kompetenz = «Zuständigkeit» stammt aus der Zeit, als beide Eigenschaften in der Regel zusammenhingen: Wer in einem bestimmten Gebiet schritthalten konnte, war auch dafür «zuständig».
In ihren Ausführungen betonen die Autoren, dass die Überprüfung von Kompetenzen stets die sogenannten «Umweltbedingungen» in der Geschichte eines Individuums mitprüft und dass Kompetenzen nicht wie Fertigkeiten trainiert werden können, sondern «selbstschöpferisch» entstehen und gefördert werden können, wenn die notwendigen «Umweltbedingungen» gegeben sind. Auch Fertigkeiten und Techniken (Skills) werden in der Praxis also nicht mechanisch, sondern «kompetent», das heisst situativ angemessen und damit modifiziert, eingesetzt.
Le Boterf (2000) unterscheidet in frankofoner Tradition «Ressourcen» (individuelle Kenntnisse, Fertigkeiten, kognitive Fähigkeiten, Umfeldbedingungen) von «Kompetenzen». Mit anderen Worten: Ressourcen stellen das Potenzial einer Person dar (dazu gehören auch Vorwissen und Erfahrung).
Kompetenzen entstehen nach Le Boterf in der Mobilisierung und Kombinierung von Ressourcen «am Ort» im Verhältnis zur Erwartung von Leistungen. Aus- und Weiterbildung kann in diesem Sinne vor allem Ressourcen berücksichtigen, entwickeln, transparent machen, zur Verfügung stellen, also Voraussetzungen schaffen, ohne die angestrebte Wirkung gleich mitzuproduzieren.
Kompetenzen werden demnach nur im Arbeitsprozess sichtbar und können nur dort evaluiert werden. Die ausgewiesene und sichtbar gewordene Kompetenz nennt Le Boterf in Anlehnung an Chomsky «Performanz», die keine künstliche Aufteilung in Selbst-, Sozial-, und Fachkompetenz mehr erkennen lässt. Erst diese Performanz würde dann qualifizierbar und damit von einer externen Autorität anerkennbar.
Aus Performanz kann demnach auf Kompetenz geschlossen werden, das Ausbleiben von Performanz bedeutet jedoch nicht, dass Kompetenz nicht vorhanden ist.
Transfer von Wissen oder Kompetenzen ist immer kontextabhängig und steht wahrscheinlich auch in engem Zusammenhang mit jeweilig fachspezifischem Wissen. Wissen wird also nicht importiert und verarbeitet wie ein industrieller Rohstoff; Wissen wird als Transferwissen in problemhaltigen, komplexen und sozialen Lernkontexten aufgebaut und – wenn schon