Gestalttherapie in der klinischen Praxis. Группа авторов

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Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов EHP - Edition Humanistische Psychologie

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sind.

      Aber was ist diese Identität? Was sind diese »Kernprinzipien«, an denen wir uns orientieren sollen, wenn wir in diesem hermeneutischen Prozess handeln und leben, im Dialog mit (unserer Interpretation) der grundlegenden Identität unseres Vermächtnisses, in einer dialektischen Auseinandersetzung mit (unserer Interpretation des) dem Kontext der ursprünglichen Darstellungen dieser grundlegenden Prinzipien und (wiederum unserer Interpretation) unserer Situation heute? Dieser Prozess kann sich dann wie ein belebendes Abenteuer in einer immer neuen Welt anfühlen – oder eher wie eine verstörende Reihe von Zerrspiegeln, wie Schattenboxen, ohne dass man sicheren Boden unter den Füßen hat. Der Unterschied zwischen diesen beiden Reaktionen auf die Herausforderung der hermeneutischen Perspektive liegt, aus gestalttherapeutischer Sicht, in der Qualität und der Quantität der Unterstützung, die angesichts dieser Herausforderung und aus dem Feld heraus angeboten und genutzt wird. Von fundamentalster Bedeutung für diese Unterstützung ist selbstverständlich die Qualität von Anwesenheit und Kontakt, die von Kliniker/Moderator/ therapeutischem Praktiker im Prozess der Intervention angeboten werden.

      Spagnuolo Lobbs Ansatz in diesem Text bietet uns die Unterstützung einer äußerst nützlichen und kreativ aktualisierten Übersicht der Kern-Topoi oder thematischen Hauptanziehungspunkte unseres theoretischen Erbes, wie sie im Text von 1951 dargelegt wird. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema hat sie jede der Schlüsselthematiken des ursprünglichen Textes nahtlos mit der wachsenden Bedeutung des Beziehungsaspekts verbunden, der die darauf folgenden 60 Jahre der Gestalttherapie kennzeichnet (eine Entwicklung, bei der Spagnuolo Lobb selbst eine wichtige Rolle gespielt hat). Das Ergebnis ist höchst stimmig und unmittelbar anwendbar, sei es im klassischen Setting einer Eins-zu-eins-Therapie, in einem dyadischen oder einem Gruppensetting. Den hier entwickelten Themenkatalog nicht nur auf diese Konstellationen, sondern auch auf größere soziale Formate anzuwenden, mag noch ein größerer Schritt sein, so wie es auch ein großer Schritt war, Goodmans und Perls (oder auch Freuds) ursprüngliche Darlegungen dieser Themen auf größere Gruppen und andere Settings anzuwenden.

      Eine andere Herangehensweise an diese Frage könnte ein Schritt zurück zur ursprünglichen Untersuchung der Entstehungsprozesse der Erfahrungsbildung selbst sein, wie sie die ersten vier Jahrzehnte der Gestaltforschung und -praxis bis hin zu Goodmans und Perls Arbeit geprägt hat und wie sie auf nützliche Weise in Lewins anwendungsbezogener Forschungsperspektive zusammengefasst ist, auf die ich oben Bezug genommen habe. In der heutigen internationalen Gestaltlandschaft ist die individuelle Therapie nur ein kleiner Teil der vielfältigen Anwendungen der zeitgenössischen Gestalttheorien und -methoden. Diese Anwendungen reichen von psychologischer Beratung, Gruppenarbeit, Paar- und Familientherapie, Lebensberatung und Coaching für Führungskräfte, organisatorischem Consulting, Management, Angeboten für intensive Gruppentherapie, im Bildungsbereich bis hin zu politischer Arbeit und Organisation auf unterschiedlichen Ebenen. Neben Spagnuolo Lobbs lebendiger neuer Darlegung brauchen wir weitere Sichtweisen auf diesen reichhaltigen hermeneutischen Dialog, um all die fruchtbaren Anwendungen unseres Gestalterbes aufzunehmen.

      Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal

      1. Das Leiden der Beziehung an der Kontaktgrenze

      In der Gestalttherapie geht man von einem Kontinuum von gesundem und sogenanntem pathologischen Erleben aus, in dem es keine klaren Abgrenzungen gibt. Diese Überzeugung ist der Grund dafür, weshalb alle Versuche der diagnostischen Kategorisierung und Nosologie immer mit Vorsicht behandelt wurden (Perls / Hefferline / Goodman 20061). Der Wert, der dem momentanen Erleben und dem Potenzial jeder Situation zugemessen wird, untermauert die Legitimität und den Wert aller gelebten Erfahrungen. Es ist genau dieser Wert, der verhindert, dass Menschen und ihre Erfahrungen zu fixierten Gestalten werden.

      Dies sind die ersten Erwägungen, die auftauchen, wenn wir über die Frage »Wie können wir Psychopathologie mithilfe der Gestalttherapie behandeln?« nachdenken. Und wie können wir das bewerkstelligen, ohne auf Kategorien zurückzugreifen, die Erfahrungen und PatientInnen in starre Formen pressen?

      Etymologisch betrachtet setzt sich das Wort »Psychopathologie« aus drei Wortstämmen zusammen: »psycho-«, »patho-« und »-logos«.

      Psyche bedeutet im Griechischen Seele und stammt von psychein ab, was »atmen« bedeutet. Patho, vom Griechischen pathos, bedeutet Leidenschaft oder Leiden und kommt von paschein (indoeurop.), »erleiden«. Logos ist das griechische Wort für »Diskurs« (Cortelazzo / Zolli 1983). Psychopathologie ist also die Lehre vom Leiden des Atems, von etwas Flüchtigem, das nicht in einer festen Objektform fassen lässt.

      Es ist das Leiden des belebenden Atems, das Leiden des belebten lebendigen2 Leibes, nicht das des Körpers.3 Alle Lebewesen sind lebendig, eben weil sie intentionalen Kontakt mit ihrer Umwelt haben (Minkowski 1999). Psychopathologische Phänomene betreffen Subjekte, wenn sie mit ihrer Umwelt interagieren, genauer gesagt: die Interaktion von Subjekten mit der Umwelt. An diesem Punkt kommen wir zu einer grundlegenden Entscheidung: Wir können die Psychopathologie entweder als Leiden des Individuums oder als Leiden des Feldes ansehen. Dieses Leiden manifestiert sich im Individuum und kann vom Individuum transformiert werden: Das Individuum ist ein Organ, das eine Auswahl im Feld trifft (Philippson 2009). Je nachdem, für welche Betrachtungsweise man sich entscheidet, öffnen sich zwei sehr unterschiedliche Universen und zwei grundlegend unterschiedliche Auffassungen von psychischem Leiden.

      Diese beiden Standpunkte bezüglich der Realität psychischen Leidens sind vergleichbar mit den beiden Standpunkten, mit deren Hilfe man das Licht in der Physik verstehen kann: Ist es eine Welle oder ein Partikel? Wir gestalten unsere Realität durch unsere Betrachtung der Welt. Bei psychopathologischen Phänomenen ist es ähnlich. Man kann die Psychopathologie als ein Phänomen betrachten, das zum Individuum gehört. Man kann sie aber auch als ein Phänomen auffassen, das aus dem Feld hervorgeht und zum Zwischen gehört, um Buber zu zitieren (Buber 1993; Salonia 2001a; Spagnuolo Lobb 2001a, 2005a; Francesetti 2008). In der Sprache der Gestalttherapie ist es ein Phänomen, das an der Kontaktgrenze4 passiert (vgl. Eidenschink / Eidenschink 1999; Siegel 2007; Luif 1992)..

      Unsere Epistemologie basiert auf der Annahme, dass das Erleben weder allein zum Organismus noch allein zur Umwelt gehört (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Spagnuolo Lobb 2001b, 86; 2003b, 2005a). Vielmehr entsteht Erleben als »mittlerer Modus« an der Kontaktgrenze. Die erlebnisorientierte Figur, die sich aus dem Kontext des Hintergrundes (der dem Kontinuum des Erlebens zugrunde liegt) hervortritt, ist eine Figur, die zum Individuum gehört (so haben in einer Diskussionsgruppe keine zwei Menschen dieselbe erlebnisorientierte Figur). Zur selben Zeit jedoch gehört sie nicht zum Individuum (um auf unser Beispiel mit der Diskussionsgruppe zurückzukommen: Die Figur jedes Menschen gehört auch zu den Anderen, da sie von den Anderen und durch die Anderen hervorgeht und ihre Form annimmt) (Robine 2011). Im Zusammenhang mit der Psychopathologie bedeutet das: Wenn wir der Ansicht sind, dass solche Phänomene an der Kontaktgrenze entstehen, dann ist es genau genommen nicht das Subjekt, das leidet. Vielmehr leidet die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Welt: jener Raum, den der Organismus erlebt und in dem der Organismus belebt wird. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Psychopathologie die Pathologie der Beziehung, der Kontaktgrenze, des Zwischen.

      Das Subjekt ist der bewusste und kreative Empfänger dieses Leidens: Das Subjekt kann Schmerz empfinden.

      Das Subjekt kann Leiden wahrnehmen und ihm kreativ Ausdruck verleihen, doch das Leiden entsteht an der Kontaktgrenze. Das Agens dieses Gefühls (allen Gefühls) ist das Selbst, das eine Kontaktfunktion ist. Nach der Auffassung der Gestalttherapie erforscht die Psychologie das, was an der Kontaktgrenze passiert (während das, was innerhalb des Organismus passiert, in den Bereich der Biologie und Physiologie gehört, und das, was außerhalb des Organismus passiert, in den Bereich der Soziologie und Politik) (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Demnach muss sich die Psychopathologie notwendigerweise

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